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Alois Hotschnig: Vorschläge für ein besseres Ende

Blog, 9. September 2021
Zur Eröffnung der Literatur im Herbst 2020 sprach Alois Hotschnig über das Finden einer eigenen Sprache, erzählerische Ambivalenzen, Bücher als Denk- und Gesprächsanstöße und die »heilsame Kraft des Erzählens«. Anlässlich der Saisoneröffnung der Alten Schmiede, bei der der Autor seinen neuen Roman Der Silberfuchs meiner Mutter präsentiert, kann seine Rede hier nachgelesen werden:

Seit einigen Wochen waren immer wieder Zeichen auf dem Steinboden vor der Haustür zu sehen, auf dem Gehweg zur Straße hin, ungelenk und doch mit Bestimmtheit hingeworfene Striche und Flecken, vom Regen weggewaschen, blühten sie schon am nächsten Tag wieder neu auf. Bunte Sonnen und Monde, Sterne jeder Art, Quallen und Bäume, freundliche Monster und ernste, und heute Morgen sah ich das kleine Mädchen aus dem zweiten Stock, das sie wohl alle gemalt hat. Konzentriert und in sich versunken hockte es dort auf dem Boden, und unter den kleinen Fingern flogen die bunten Gestalten über die grauen Steinplatten hinweg.
Kurz trafen sich unsere Blicke, und ich erinnerte mich an den Moment, als meine ältere Schwester mir als Kind eine Schachtel mit Tafelkreiden in die Badewanne herunterreichte, in der ich meine ersten Jahre verbracht habe.
Diese Wanne aus Blech war mein Ort. Samstagabend wurde gebadet. Der Vater, die Schwester, der Bruder, nach mir die Mutter, und nach diesem Ritual konnte das nächste beginnen – Hans-Joachim Kulenkampffs Einer wird gewinnen. Unter der Woche war die Wanne mein Ort. Sie ist meine erste Tafel gewesen, die erste Mauer, in die ich mit den Kreiden meiner Schwester meine Zeichen geritzt habe.
Damit fing es an. So hat das Erzählen begonnen bei mir. In der Erinnerung jetzt – jeder dieser Striche war eine Geschichte, die ich den anderen um mich herum zu erzählen versuchte, und dabei immer wieder ein erstauntes oder ungläubiges Lächeln auslöste, als hätte man mich bei einer bloßen Behauptung ertappt, bei einer Lüge. Was ich sagte, war nicht gelogen, denn das eine Zeichen, das Bild, das ich gerade als eine Geschichte ausgegeben hatte, war oft schon beim nächsten Hinsehen zu einer neuen Geschichte geworden, die ich ebenso beherzt weitergab wie die Geschichte davor, wie ich es eben aus diesem Wirrwarr herauslas, aus den Möglichkeiten, die sich vor mir auftaten und die ich nur so aus dem Handgelenk schütteln konnte wie dieses Mädchen jetzt hier. Eine Geschichte erzählt eine andere, oder sie erzählt sich als eine andere, oder sie erzählt sich weiter, und immer so fort. Doch zunehmend merkte ich, dass man mir nicht recht glauben wollte, man traute mir nicht, so fühlte es sich immerhin an. Die Vielzahl an Varianten ein und derselben Geschichte wurde mir als Beliebigkeit ausgelegt, als fantasierte Willkür. Was flunkerst du nur wieder daher.

Und dann später, schon bei einem der ersten Bücher, die wichtig und bestimmend wurden für mich, erging es mir selbst gar nicht anders, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Rudolf Höß, der Kommandant von Auschwitz hatte einen Bericht geschrieben über sein Leben und über seinen Anteil an dem, was an diesem Ort unter seiner Leitung geschehen ist. Den Bericht las ich als Kind. Es war meine erste Begegnung mit diesem Thema, entsprechend betroffen war ich davon. Und entsprechend ausgeliefert war ich dem Erzähler dieses Berichts, durch den ich von den Geschehnissen überhaupt erst erfuhr.
Jedem Satz geht ein Leben voraus. Vom Vorleben dieser Geschichte wusste ich nichts. Und doch spürte ich, ihm war nicht zu trauen. Er war der Erste, der mir davon erzählte. Er war der Verursacher des von ihm beschriebenen Übels, und gleichzeitig doch auch mein erster Gewährsmann in dem allgemeinen Schweigen ringsum. Denn nur durch Zufall war ich auf dieses Buch gestoßen, auf dem Dachboden unseres Hauses, wo das Vergessen zum Trocknen aufgehängt wurde wie die Wäsche der vergangenen Tage.
Mit diesem Bericht blieb ich lange allein. Unmöglich, mit jemandem darüber zu reden. Von dieser Geschichte kam ich seither nicht los. Ich war begierig danach, mehr davon zu erfahren. Und konnte es doch lange nicht. Durch das Schweigen ringsum, in der Familie, im Ort und im Land. Erst in den Büchern sind mir dann später die Menschen begegnet, die reden wollten und die geredet haben auch von der Zeit damals und jetzt. Und die es anders erzählt haben, als ich es von Rudolf Höß im Ohr hatte.

Jahre später hatte ich als Rettungsfahrer immer wieder mit einem Mann zu tun, mit einem Patienten, der mich jeweils vor seinem Haus, vor einem Schaufenster stehend erwartete. Er stand dort und stand, wie andere auch, aber ihm war es nicht möglich, sich von allein in Bewegung zu setzen, den ersten Schritt zu tun. Von sich aus. Er stand dort und stand. Bei unserer ersten Begegnung bat er darum, ihm mit dem Schuh oder mit einem Stock leicht gegen das Schienbein zu schlagen, das tat ich, und er machte den ersten Schritt und den zweiten, und schon waren wir gemeinsam auf dem Weg.
So ein Schlag gegen das Schienbein sind die Bücher für mich immer gewesen, das Mittel, der Anlass dafür, ins Gehen zu kommen, ins Gespräch, um zur Sprache zu kommen überhaupt.
Die Bücher brauchte ich um diesen Schlag nicht zu fragen, die wussten jeweils, was zu tun war mit mir, um mich in Gang zu setzen und nötigenfalls auch wieder allein zu lassen, eine Zeit, in jedem Fall aber, mich wegzubringen vom Ort einer Stagnation.
Man sucht. Man wird auch gefunden. Und angesprochen. Von meinem blinden bosnischen Freund, dem Übersetzer Sead Muhamedagić habe ich die Geschichte im Kopf – so jedenfalls habe ich sie in Erinnerung, auch wenn es vielleicht nicht genau so war: Er saß an der Nähmaschine seiner Mutter, die für ihn eine Lokomotive war, auf der er als Lokführer durch die Landschaft seiner Fantasie tuckerte, von einer Ortschaft zur anderen. Plötzlich waren Gedichte zu hören, auf Deutsch. Er und alle um ihn herum sprachen Kroatisch damals. Wie eine Durchsage während der Zugfahrt hatte er jetzt Gedichte von Rainer Maria Rilke im Ohr, in der Stimme von Oskar Werner. Seine Mutter hatte am Radio den Sender gewechselt, und ab diesem Moment fuhr Seads Zug durch ein anderes Land, durch eine Sprache, die er nicht kannte, die ihm fremd war und ihn doch anzog wie nichts anderes zuvor. Die Sprache war Deutsch und die Landschaft waren Rilkes Gedichte. Eine ganze Stunde lang fuhr er so dahin. Auf dieser Fahrt mit dem Nähmaschinenzug hörte Sead die ersten deutschen Worte seines Lebens, in einem Dorf in Bosnien. Seine Mutter hatte am Radio gedreht und damit für Sead die Weichen gestellt für seine Weiterfahrt – in die Wirklichkeit, mit geändertem Fahrplan, in die Literatur dieser Sprache, die er nun fast schon ein Leben lang ins Kroatische übersetzt.
In seiner Familie wurde nicht gelesen. Er wusste nichts von Literatur. Er war ein Kind, ein blindes Kind, das an einer Nähmaschine zu den Orten seiner Fantasie unterwegs war.
Was auch immer es gewesen sein mag: Er war auf Empfang, und das Signal kam zu ihm durch. Allen Hindernissen zum Trotz. Und der Sender ist da, immer noch. Es geht nur darum, auf Empfang zu gehen.

Was ist es, das uns ansprechbar macht? Oft ist es ein Mangel. Ein Verlust. Denn – immerhin – alles beginnt ja mit einem Verlust. Durch diesen Verlust setzt der Atem ein. Wenn wir nicht abgetrennt würden, wer würde je atmen von selbst? Von sich aus? »Es ist so bequem, unmündig zu sein.« Wir wissen es längst.
Diese Trennung, der Schnitt, diese Absonderung ist die Ursache für alles. Damit fängt es an.
Der erste Schrei, und die Erzählung beginnt, von uns selbst erzählt. Das heißt, sie könnte beginnen. Aber so beginnt es eben oft nicht. Oft und oft ist es nicht die eigene Stimme, die unser Leben erzählt.
Es sind so viele, die nicht gehört werden im Schreien ringsum. Und für die spricht die Literatur, denke ich, für die ganz besonders. Und die Kunst überhaupt.
Von ihnen soll hier die Rede sein. Von den Stimmen, die es gibt und doch nicht gibt, aus welchen Gründen auch immer.

Jemandes Stimme sein. Und am besten – ihn oder sie selbst zu Wort kommen lassen.
Einige meiner eigenen Texte haben mich auf diese Weise angesprochen. Leibhaftig. Als wirkliche Menschen. Durch ein Anliegen, von dessen Dringlichkeit ich bis dahin gar nicht wusste, das aber wohl auch in mir angelegt war. Sie haben sich mich ausgesucht. Die Themen sind es, die Geschichten, die sich denjenigen suchen, durch den sie ausgesprochen sein wollen.

Peter Härtling als den Kinderbuchautor haben sich über die Jahrzehnte hinweg unzählige junge Leserinnen und Leser in Form von Briefen ausgesucht, mit Reaktionen auf seine Bücher, mit Fragen um Rat und mit Anregungen jeder Art, von über fünfzigtausend Briefen wird berichtet. Entsprechend vertraut war er mit ihren Bedürfnissen, Sehnsüchten und Wünschen, die er mit ihnen auch dadurch teilte, dass er sie in seine Geschichten aufnahm. Ein Austausch, wie das Atmen ein Austausch ist. Ausatmen. Einatmen. Schreiben und Lesen – Erzählen und Hören, Zuhören – als wären Schreiben und Lesen ein und derselbe Vorgang, und so ist es ja auch. Ein Erzählen, das aus dem Zuhören kommt.
Ein Kind war es auch, das Härtling zum Buch Ben liebt Anna angeregt hat. Darin geht es um eine erste Liebe und um einen Heimatverlust, eine frühe Entwurzelung durch Umsiedlung, und um die Unsicherheiten der Ankunft in einem anderen Land und einer fremden Sprache.
Das Mädchen Anna ist mit seinen Eltern aus Polen nach Deutschland gekommen. Spätaussiedler, wie es heißt. Es sind die Siebzigerjahre. Als Fremde wird Anna in der Schule von den anderen ausgegrenzt und geschnitten. Und dann doch, nach und nach wächst sie ein, und schon bald gibt es auch diese erste Liebe, mit Ben, einem Jungen aus ihrer Klasse, mit einem Jungen von hier.
»Ich erinnere mich gut, wie ich mit sieben Jahren zum ersten Mal verliebt war«, schreibt Härtling in einer Vorbemerkung. »Das Mädchen hieß Ulla. Es ist nicht die Anna in diesem Buch. Aber wenn ich von Anna erzähle, denke ich an Ulla«, schreibt er.
Wie oft wissen wir gar nicht, wie sehr wir doch eigentlich für uns selbst sprechen, wenn wir uns vermeintlich für jemand anderen sprechen hören.
Ein Flüchtlingskind hatte Härtling auf das Thema Fremdsein hin angesprochen, ohne zu wissen, dass auch er ein Flüchtlingskind war. Und als das Aussiedlerkind, als das Vertriebenenkind, das er ja zeitlebens geblieben ist, hatte er nicht nur für dieses Mädchen sein Thema gefunden.
»Als ich das Buch schrieb, las ich in Berlin in einer Schule am Chamissoplatz, da war ein Mädchen aus Litauen oder Polen – und ich beschloss: Das ist die Anna.«
Die Tatsache, dass dieses Kind sich mit seinem Anliegen an den Autor gewandt hat, hat sich in mir festgesetzt als eine der Ursachen, aus denen heraus eine Geschichte zur Sprache kommt: durch eine Not, die denjenigen, der von ihr besetzt ist oder der sie in einem anderen wahrnimmt, dazu bringt, sie auch für andere sichtbar und erkennbar werden zu lassen. Es ist eine Art Triebfeder auch dafür, dass eine Erfahrung als erzählte Geschichte erlebt werden kann, im Wissen um einen Umstand, den es wahrzunehmen und zu bestimmen gilt, im Hinblick darauf, ihn zu verändern.
Die Literatur ist die Erforschung dieses Umstands, die Darstellung, die Diagnose und letztlich auch die Medizin dagegen. Sie ist die Auseinandersetzung mit der Krankheit, zumindest aber ist sie die Suche nach einem Gegenmittel, in Summe ist sie die Forschung nach der Formel, nach der Weltformel, mit all ihren Verwerfungen und Irrtümern auf dem Weg dorthin.
Und – wie viele Krankheiten es auch immer geben mag: ebenso viele Variationen der Darstellung gibt es auch, ebenso viele individuelle literarische Ausformulierungen und Anwendungsmöglichkeiten dieser Rezeptur wird es geben. Und wenn diese Geschichten auch nicht in jedem Fall die Geschichten einer Genesung sein können, so sind sie doch immerhin die Darstellung dessen, was war und was ist und was sein könnte, vielleicht, und eine Handreichung, auch eine lustvolle und anregende Abmischung der Arzneien. Immerhin.

Literatur ist ein Prozess, der gewonnen werden kann. Ein Heilungsprozess. Und so aufregend und spannend wie das Handwerk der Medizin, die sich mit Krankheiten ja nicht aus Todessehnsucht befasst, sondern mit dem Anspruch, die zugrunde liegende Kränkung zu erkennen und dadurch zu überwinden.
Mit ihren Fragen und Anregungen wenden sich die jungen Leserinnen und Leser intuitiv an diese heilsame Kraft des Erzählens. Als gäben sie eine Diagnose in Auftrag, einen Befund. So wie es dieses Kind zum Thema Fremdsein getan hat, weil es wohl instinktiv begriffen hat, dass das Erzählen darüber dieses Gegenmittel sein könnte, der Versuch einer Immunisierung.
»Und dann lese ich immer häufiger etwas, das ich nicht erwartet hätte«, sagt Härtling in einem Interview, »in Briefen von Kindern aus Syrien oder Afghanistan, die übrigens mühsam gut geschrieben sind, steht: Die Anna, das bin ich.«
Das Ende seiner Erzählung ist offen. Annas Vater hat endlich Arbeit gefunden, weit entfernt, die Familie zieht weg, und ob Anna und Ben sich noch einmal begegnen werden, das wird nicht gesagt.
Auf dieses Buch kamen so viele Reaktionen seiner jungen Leserinnen und Leser wie bei keinem Buch davor. Mit Danksagungen, vor allem aber mit Vorschlägen, was den Ausgang der Geschichte betrifft, mit Vorschlägen für ein besseres Ende.

Mit dem Zweifel und der damit verbundenen Irritation können oder mögen Kinder offenbar nicht gut umgehen, und wie sollte es auch anders sein. Und daher wohl auch der Wunsch einzugreifen, ins Vermeidliche und ins Unvermeidliche vielleicht noch besonders.
Es ist offen, und – für die eigenen Überlegungen muss es auch offen bleiben. So offen, wie das Käfigtürchen in der Fabel von Italo Svevo offen steht, die er seiner Tochter ins Stammbuch geschrieben hat, und in der er von der menschlichen Bedingung schlechthin erzählt, vom Dilemma des Vor-die-Wahl-Gestelltseins.
Das Käfigtürchen war offen geblieben. So beginnt die Geschichte. Die Tür zu dem Käfig steht offen. Das erkennt der kleine Vogel, und damit ist er auch schon an der Öffnung, um sich von dort aus die Welt anzusehen. Und plötzlich spürt er ein Verlangen nach den weiten Räumen, für die seine Flügel geschaffen sind, wie es heißt. Er überlegt. Und dabei kommt ihm der Gedanke, er könnte von seinem Flug zurückkommen, und jemand könnte inzwischen das Türchen zugemacht haben, und er müsste als Gefangener draußen bleiben. Er kehrt in den Käfig zurück. Und dann erfahren wir noch, dass er schon kurz darauf mit Befriedigung dabei zusieht, wie das Türchen sich wieder schließt, das seine Freiheit besiegelt.

In dieser kleinen Geschichte ist die Ambivalenz unserer Existenz eindrücklich dargestellt. Sich verändern oder lieber doch nicht. Und um welchen Preis.
Es ist der Augenblick, der einer Entscheidung unmittelbar vorausgeht, um den es hier geht. Um das Zögern, das ja ein ganzes Leben ausfüllen kann. Um den Moment zwischen dem, was ist, und dem, was sein könnte, in jedem Fall aber geht es um den Moment, in dem wir gefragt sind, jeder von uns, in dem es auf uns selbst ankommt und dem nicht zu entkommen ist. Der Moment vor dem Sprung, vor dem Absprung ins Weggehen oder ins Dableiben.
Svevos Fabel selbst ist ja nicht offen, im Gegenteil, offen steht nur die Tür dieses Käfigs, und auch die nur auf Zeit. Die Tür fällt ins Schloss. Für uns als die wahrnehmenden Leser allerdings geht sie gerade dadurch erst wirklich auf, indem wir realisieren, was hier geschieht, von welchem Vorgang wir hier Zeuge werden.
Es geht darum, etwas wahrzunehmen, um zur rechten Zeit den Schritt zu tun, die Entscheidung zu fällen zwischen – Dableiben und Weggehen.
Und wenn damit auch jeder andere existenzielle menschliche Bereich angesprochen und gemeint ist, so denke ich dabei doch gerade auch an die Menschen in Syrien jetzt oder in Nigeria oder in Libyen, wo auch immer – die jeweiligen Situationen sind so austauschbar wie die Darsteller, gleich bleibt nur das Stück, das gespielt wird, und das Türchen, das sich öffnet und schließt.

Und an einen anderen Text denke ich, an eine Geschichte, durch die für mich alles begonnen hat. Die Küchenuhr. Von Wolfang Borchert.
Da sitzt einer, es sind die Vierzigerjahre in Deutschland, es ist Krieg, ein junger Mann sitzt in einer zertrümmerten Stadt, mit einer Küchenuhr vor sich auf dem Schoß sitzt er auf einer Bank und redet und redet vor sich hin, auch wenn ihm keiner zuhört von den anderen Ausgebombten, die dort mit ihm sitzen. Seine Küchenuhr ist kaputt. Aber sie ist das Einzige, das ihm geblieben ist. Davon erzählt er den anderen, die nur vor sich hinstarren. Die Uhr ist stehen geblieben. Aber diese Geschichte ist nicht stehen geblieben, die tickt immer noch. Ich lese diese Geschichte und denke an die Menschen jetzt hier bei uns, die auf den Bänken sitzen oder unruhig mit dem Handy in der Hand vor uns und neben uns auf und ab gehen, und denen oft auch nicht viel mehr als dieses Handy geblieben sein wird, mit dem sie wohl ständig die Orte absuchen, von denen sie gekommen sind.

Und wenn der kleine, schreckhafte Vogel in seinem Käfig darüber sinniert, wenn er von seinem Ausflug in die Freiheit zurückkäme, könnte die Tür verschlossen sein und er müsste als Gefangener draußen bleiben, dann ist der Gedanke gar nicht so absurd, wie er vielleicht scheinen mag. Denn wie viele sind gerade jetzt in genau dieser Lage, in den Lagern irgendwo auf dem Weg zu uns oder anderswohin, die dort, wo sie hinwollen, nicht hinkönnen, und auch nicht zurückkönnen, weil es das Land, aus dem sie weggegangen sind, gar nicht mehr gibt.
Und auch sein Gedanke, jemand könnte kommen und ihm seinen Käfig, den er sich mit so verstörender Befriedigung heimelig eingerichtet hat, streitig machen wollen, ist ja Realität. Und so hängt er vielleicht – vorsichtshalber – ein Täfelchen an das Türchen, das sein Schicksal besiegelt: Ausreisezentrum. Damit ganz sicher niemand hineinkommt zu ihm. Ein Täfelchen, auf dem auch das Wort Einreisezentrum stehen könnte. Schreiben ist ja immer auch ein Um-schreiben dessen, was war und was ist.

Wolfgang Borchert hat mir die Tür aufgemacht. Seine kaputte Küchenuhr hat mich zum Gehen gebracht. In der Verstörtheit dieser Geschichte habe ich mich in meinem eigenen Verstörtsein wiedergefunden. Ohne diese Verunsicherung wollte ich von da an nicht mehr auskommen müssen, und das musste ich auch nicht, denn der Stoff dafür war jetzt gefunden. Und davon gab es mehr.
Plötzlich gab es Worte für das Schweigen ringsum. Durch einen Text, durch ein Buch, eine Geschichte, und von einer Geschichte zur nächsten. Und vor allem: Das Schweigen war hörbar geworden. Unüberhörbar. In den Texten habe ich dieses Schweigen zum ersten Mal als das wahrgenommen, was es war, als das Verschweigen von dem, was geschehen ist. Es war benennbar geworden. Ich habe von Dingen erfahren, die es bis dahin nicht gegeben hatte, weil es sie ganz einfach nicht geben durfte. Nun gab es die Worte dafür. Auch dafür. Eine Kartografie der Toten Gebirge um mich herum und in mir.
Aus den Büchern heraus waren die Stimmen zu hören, unabhängig von ihrem eigenen Verschwinden, die Stimmen der Lebenden und der Toten, der Untoten, der Totgeschwiegenen auch, die mich aufmerksam gemacht haben auf das, was tatsächlich geschehen ist. In den Erzählungen war es nun spürbar geworden und aufspürbar. Als eine Art Hintergrundstrahlung eines Geschehens, als ein Nachklang, ein Rauschen, diffus vielleicht und schwer verständlich und vieldeutig und verzerrt wie das Geschehen selbst, aber eben doch – als ein Hinweis darauf, dass – unter einer erzählten Geschichte – noch eine ganz andere Geschichte verborgen sein mag.

Ein Fall in Hohenems, auch der ist so eine Geschichte. Ein befreundeter Archivar hat mir davon erzählt.
Lange nach dem Krieg, mehr als siebzig Jahre danach hat ein Mann davon erfahren, dass eine seiner Verwandten, eine Tante, in die Mühlen der NS-Euthanasie geraten ist. Maria Rosalia Waibel, eine Klosterfrau, eine Kreuzschwester, Haller Kreuzschwester. An Typhus und Kreislaufschwäche soll sie gestorben sein. Sie war Handelsschullehrerin, und ist dann erkrankt und in die Valduna gekommen, in die Anstalt, und von dort aus weiter nach Hartheim.
Ihr Name schien nirgendwo auf. Auch in den Erzählungen innerhalb der Familie kam sie nicht vor. Man hat sich geniert dafür, dass sie umgebracht wurde. Weil sie gestört war.
Und dieser Mann wiederum hat sich geschämt, weil auf dem Grabstein der Familie die Großeltern und die Eltern und auch die Geschwister genannt waren, aber sie eben nicht.
Er hat das geändert. Er hat sie auf den Grabstein setzen lassen. Neunundsiebzig Jahre danach. Die Namen der anderen Verwandten hat er nicht nachziehen lassen, obwohl sie nur noch sehr schwer zu lesen sind. So ist jetzt nur dieser eine Name in frischen weißen Lettern deutlich zu sehen. Ihr Name soll herausleuchten. Und so ist es auch.
Er hat diese Frau sichtbar gemacht.
Damit kann die Erzählung beginnen. Durch die Nennung ihres Namens auf diesem Grabstein beginnt die Geschichte der Rosalia Maria Waibel, die noch zu erzählen sein wird.


Erstveröffentlicht in: Wespennest Nr. 180 (Mai 2021), S. 7–10.