blog

Schreiben, zeichnen, Leben retten: Teresa Präauer

Blog, 15. November 2021
Wieso schreiben, wieso zeichnen, wann, wo, wozu? Und wie wird daraus ein Leben? (Teresa Präauer). Im Mai trafen Teresa Präauer und der Zeichner und Autor Willy Puchner in der Alten Schmiede zu einem Gespräch über das Anfangen und Weiterverfolgen eines künstlerischen Wegs, über Inspiration und Arbeitsmaterial zusammen. Der Text, den Teresa Präauer für diesen Abend verfasste, ist hier nachzulesen.


Vom Glück (und Unglück) des Zeichnens (und Schreibens)

Von Teresa Präauer


All die schönen Ablenkungen!
Ich habe eine Kurznachricht an einen Freund geschrieben, ich könne mir nun wirklich nicht im Internet ansehen, wie Fran Jeffries im Pink-Panther-Film von 1963 »Meglio Stasera« singt, denn ich müsse einen Text fertigstellen.
Er fragte mich: Für wen schreibst du denn?
Das ist eine allgemeine Lebensfrage, habe ich darauf geantwortet.
Und dann haben wir beide lachen müssen, da er doch nach dem konkreten Auftraggeber gefragt – und ich mit der ungefähren Metaphysik geantwortet habe.

Wieso schreibe ich eigentlich, und wozu zeichne ich? Wann und wo, für wen und wofür?
Es gibt einen Text des Zeichners und Cartoonisten Hans Traxler, der (es muss im Jahr 2007 gewesen sein) in einer Zeitung als Vorabdruck einer geplanten Buchpublikation erschienen ist. Im Untertitel hieß es: »Zehn Gründe, weshalb ich gerne zeichne«.
Das beantwortet noch nicht die Frage nach dem Auftraggeber, aber zumindest die nach der Motivation für die künstlerische Arbeit. Ich habe den Artikel ausgeschnitten und aufbewahrt, um ihn hie und da aus der Schublade zu ziehen, sollte ich in Gefahr kommen, im freien Gelände der Lebensführung die Orientierung zu verlieren.
Denn Grund zwei lautet da: »Zeichnen kann Leben retten.« Hans Traxler erzählt daraufhin, wie das Zeichnen wirklich jemandem das Leben gerettet hat: Ein Wanderer konnte gefunden werden mithilfe einer magisch-telepathisch erstellten Skizze von jener Stelle im Gebirge, an der der Ärmste zuvor verunglückt war und sich selbst nicht mehr hatte bemerkbar machen können.

Dass das Zeichnen Leben rettet, meinte Traxler hier, bei allem Humor in seinem Text (wie man ihn pflog an der Neuen Frankfurter Schule), auch ganz wörtlich: Eine Zeichnung gibt etwas wieder und gibt etwas vor, wofür es manchmal keine Worte oder Wege gibt.
Die Zeichnung vermag es, im Detail spezifisch zu sein – und vermittels Abstraktion zu verallgemeinern.
Und zum dritten, doch auf diese Weise lokalisiert man keineswegs eine Un-glücksstelle, sondern vielmehr eine Glücksstelle: öffnet die Zeichnung den Raum für Erfindung. »Zeichnen macht glücklich«, benennt Hans Traxler seinen zehnten Grund, weshalb er gerne zeichne.

Mein Leben war keineswegs bedroht (wie das des verunglückten Wanderers im Gebirge), aber doch hat mir als Kind das Zeichnen das Leben gerettet, insofern als ich mit dem Zeichnen eine besondere Fähigkeit besaß, die nur ich in dieser Form beherrschte (innerhalb eines knappen Umkreises, den man zuerst mit dem Grundriss einer Schulklasse bemessen konnte).
Man konnte damit Eindruck schinden, man konnte sich Respekt verschaffen (bei Kindern zählen solche Dinge).
Man konnte sich ausdrücken, sich abheben – und komisch sein.

Zum Zeichnen benötigt man, sollte das Geschwisterkind (superbusy with some other stuff) einmal keine Zeit haben, auch gar keinen zweiten.
Man ist (mit sich) allein und dabei gar nicht einsam.
Künstler mögen viele Probleme haben – Einsamkeit, nämlich die Einsamkeit desjenigen, der nichts mit sich anzufangen weiß, gehört meistens nicht dazu.

»Zeichnen ist ein einsames Geschäft«, nannte Hans Traxler, den man sich doch mehr als leutseligen älteren Herrn vorstellen mag, nichtsdestoweniger als Grund Nummer sechs in seiner Liste, weshalb er gerne zeichne. Um in der Ausführung dann, genauer, das Alleinsein beim Zeichnen als Vorteil zu zeigen: Man sei eben auf kein Ensemble angewiesen, auf keine Band, auf kein Team und so weiter.

Mit dem Zeichenstift ausgestattet, kann einem nicht so leicht fad werden. Die Voraussetzung dafür bietet Grund Nummer drei: »Zeichnen kann man überall.« Ich persönlich habe als Kind die unzähligen Schulstunden für mein Dafürhalten nur dann gut zugebracht, wenn ich nebenbei in meine Hefte und Bücher kritzeln konnte.
Das »Nebenbei« ist dabei übrigens eine produktive Richtungslosigkeit, die man später, wenn man das Zeichnen – das Gleiche gilt für’s Schreiben – zum Beruf gemacht hat, ein wenig verliert auf dem Weg durch’s Gelände.
Auch heute geht es mir beispielsweise mit Telefonaten, die ich eher ungern führe, so, dass ich sie am liebsten hinter mich bringe: mit dem Zeichenstift in der Hand. Am Ende eines Telefonats sehen mich dann die Kritzeleien jener Monster an, die ich als stets freundlicher, meist höflicher, manchmal vorsichtiger und mitunter einfach auch feiger Mensch vor meinem Gegenüber zu verbergen trachte. Diese Monster haben Glubsch-Augen, wildes Haar, dreckiges Fell und spitze Zähne. Aber sie grinsen! Von einem Ohr zum anderen. Vielleicht sieht so der Schalk aus.

Weil man Zeichnen überall kann, wie Hans Traxler schrieb, kann man es auch überall nicht tun. Die Arbeit der Zeichnerin und Schreiberin ist oft wie Freizeit, die freie Zeit hingegen oft mit Arbeit gefüllt. Es gibt keinen Tag ohne gezeichnete oder geschriebene Linie, »wohl aber Wochen«, wie Walter Benjamin es einmal beschrieb in seiner »Technik des Schriftstellers in 13 Thesen«.
Dass die Grenzen dabei nicht streng und eng umrissen sind, bringt eine Durchlässigkeit mit sich, die im besten Fall alles zur Kunst werden lässt. Eine Durchlässigkeit, die sich aber auch unzureichend vor Eindringlingen und Widersachern schützt (vor Angst, Zweifel, Missgunst, Zeitfressern, Schlechtrednern, Normalos, Trollen etc.).

Zur Ausübung der künstlerischen Arbeit braucht es Zeit, Konzentration, Lust und Mut.
Keine Angst vor Gefühlen und vor dem Denken.
Keine Posen.
Keine Wiederholung.
(Aber auch Zeitdruck, Ablenkung, Trotz und Verzweiflung!
Skepsis, Ablehnung von Gefühlsdusel, aber auch von allzu asketischem Strebertum.
Manchmal braucht’s gerade die Posen!
Die bewusst gesetzte Wiederholung als Stilmittel.
Und immer: sich selbst widersprechen. Und doch:)
Die Aussage wagen, den Satz riskieren.
Traxlers neunter Grund, weshalb er gerne zeichne, hat mit einem Satz von Pablo Picasso zu tun: »Es gibt die Natur, aber mich gibt es auch.«
Ich schließe mich den beiden Herren in dieser Hinsicht an.

Als die weltweite Pandemie mein Leben zur Konservierung (ewig jung bleibt man als Künstlerin ohnehin) in eine Art von Gelee eingelegt hat, innerhalb dessen sich wenig bewegt und wenig von außen eindringt, so empfinde jedenfalls ich es in meinem Alltag, habe ich meinen Ateliertisch wieder aufgebaut und habe auf’s Neue mit dem Zeichnen und dem Malen auf Papier, begonnen.
Ich habe außerdem angefangen, aus einem alten Buch voller Kakteen einzelne auszuschneiden mit einer feinen Spezialschere für lange Kakteenstacheln. (Das ist eine aufwändige Angelegenheit.) Irgendwann werde ich alle Kakteen auf Papier zu einem Riesenkaktus zusammengefügt haben, und dann wird die Pandemie vorbei sein.
Das Zeichnen, das Schneiden, das Zusammensetzen: Es hat mir, wenn nicht das Leben gerettet, so in diesen Tagen zumindest eine Art von Zuversicht gegeben, ja, eine Form von Glück für die jeweilige Dauer des Arbeitens.
Und dieses Glück heißt dann auch: sich selbst zu vergessen. »Zeichnen ist die leiseste aller Künste«, lautete Hans Traxlers siebter Grund.

Dabei ist das Zeichnen und Schreiben, wie man nun vielleicht meinen möchte, nicht bloß schön und nicht bloß tröstlich.
Man muss zwar keine Märtyrerin sein, um den Beruf der Künstlerin zu wählen – und auch dabeizubleiben über die Jahre.
Aber der Spielraum für Einvernahme durch andere Menschen und ihre Meinungen,
für Zugriff, Verletzung von Intimität,
für Missverständnis (und als Verständnis getarntes Missverständnis): der ist vorhanden, und er ist ein Gebirge, in dem man auch verunglücken kann.

Wenn man auf einer Party auf fremde Menschen trifft, beginnt das Gespräch zuerst einmal mit Smalltalk. Man prostet einander zu, sagt etwas über den Wein und das Wetter, und dann wird nach Familie und Beruf gefragt. Oft bekomme ich als Antwort: Oh, Kunst, wie schön! Und wovon leben Sie? Ich frage mich manchmal, wie die Menschen reagieren würden, wäre ich die Vorstandsvorsitzende eines Unternehmens. Die könnte ich doch sein!
Könnte ich die sein?
Eine andere Reaktion auf meinen Beruf lautet: Ich wollte auch schon immer einmal einen Roman schreiben!
Als Schriftstellerin lebt man offenbar den Traum von abtretenden Gesundheitsministern und sinnsuchenden Vorstandsvorsitzenden. Das Problem dabei ist jetzt nur, dass ich beim Wort Vorstandsvorsitzende immer gleich zu einem Wortwitz-Ende finden will.

Apropos Vorsitz: Die Kunst ist auch ein Machtinstrument.
Man kann so lange an etwas schreiben und zeichnen, bis es einem genügt und etwas in den eigenen Augen fertig ist. Grund Nummer acht lautet denn auch: »Zeichnen heißt begreifen.« Man hat begriffen, und so schießt man diese Sache (auf die niemand gewartet hat) in die Welt hinaus.
Die Welt hat definitiv darauf gewartet.

Meistens kommt nichts zurück, weil die Texte von den Lesern ja keine Antwort an die Adresse der Autorin verlangen.
Ich vermute, man wird zur Schriftstellerin oder zur Zeichnerin, weil man die Dinge zuerst einmal (für sich) ordnen und bestimmen will. Der so entstandene Text – ist insofern keine Einladung zum Dialog.
Und doch will man offenbar etwas sagen, sichtlich öffentlich und wem sonst als: den anderen. (Und hofft doch irgendwie auf Antwort; eine andere Art von Antwort.)
Komisch, wer ist das hier: der andere?
Ganz oft eben auch: man selbst.
Man möchte sich über etwas klar werden. Präzise werden. »Zeichnen ist ein hervorragendes Gehirntraining«, nannte Hans Traxler als seinen Grund vier, weshalb er gerne zeichne.

Das Schreiben kommt, was mich betrifft, vom Zeichnen. (Dabei ist übrigens nichts schlimmer, als die Imaginationen der Dichter, die sich in die Szene »Maler und Modell im Atelier« einfühlen. So nicht!) Ein Sprechen über Bilder ist in meinem Fall oft einem Sprechen über Welt gleichzusetzen. Ich sehe und beschreibe die Welt in einzelnen Standbildern.
In den letzten Jahren taucht in meiner Arbeit, dem Schreiben, der Wunsch auf, leicht zu werden – bei gleichbleibendem Gewicht.
Mit dem Humor nicht hintanzuhalten, diesem Geschwisterkind der Ernsthaf-tigkeit.
Die Themen, Kämpfe, Interessen trägt man über die Jahre mit sich durch’s Gebirg.
Und plötzlich – ändert sich von einem zum anderen Tag, was einen gerade interessiert. (Die Zeichner und Zeichnerinnen faszinieren mich immer wieder aufs Neue, auch jetzt wieder auf Instagram, was es dort zu sehen gibt!)

»Die Feder ist die Schwester des Pinsels«, heißt der Titel der zum Buch zusammengefassten Tagebucheinträge und Texte der Malerin Maria Lassnig. Wenn ich darin lese, weiß ich wieder, wieso ich schreibe und zeichne.
Und so würde ich gerne (irgendwann) alt werden.
Alter schlägt Schönheit!
»Das Zeichnen ist die älteste aller Künste«, schrieb Hans Traxler. Es ist der erste von zehn Gründen, weshalb er gerne zeichne.

Und jetzt sehe ich mir im Internet endlich an, wie die Schauspielerin Fran Jeffries, über die ich am Anfang hier geschrieben habe, ihr Lied »Meglio Stasera« sang im Jahr 1963. Mit Turmfrisur! Und mit steifen, gehemmten, dennoch so eleganten Tanzbewegungen.
Sie hat sich vielleicht auch öfter gefragt: Wieso eigentlich, und wozu? Wann und wo, für wen und wofür?



Geschrieben im Frühjahr 2021
© Teresa Präauer