blog
Dichterloh 2023: eine GEDICHTEFAHRT
In der von Kurator und Moderator Michael Hammerschmid zusammengestellten Gedichtefahrt können Sie ausgewählte Gedichte der auftretenden Dichter*innen vorab lesen. Wir bedanken uns sehr herzlich bei den jeweiligen Verlagen für die Abdruckgenehmigungen der Gedichte.
Emine Sevgi Özdamar
Ein von Schatten begrenzter Raum ist ein vielstimmiges und gleichwohl sehr persönliches Epos, in dem der Schmerz über Faschismus und Staatsgewalt in der Türkei und anderswo, die Kraft menschlicher und künstlerischer Begegnungen, Belebtes und Unbelebtes, Tiere, Dinge und Menschen zum Sprechen bringt und in dem Gedichte quer durch den Text in den unterschiedlichsten Situationen und an entscheidenden Stellen auftreten und erinnert, zitiert, gesungen oder einfach nur gesprochen werden und dabei selbst erinnern, zitieren, singen und sprechen, sodass der Roman als eine Art großes, vielgestaltiges Gedicht gelesen werden kann.
Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Roman. Suhrkamp Verlag 2021.
Valérie Rouzeau
Hundertfünfzig vierzehnzeilige, dadurch sonettartige Gedichte schreibt Valérie Rouzeau und gibt ihnen den Namen VROUZ, aus den Buchstaben ihres Namens zusammengesetzt, und sie baut ihre Gedichte mit ähnlichem Schalk und viel Lautspiel und -lust, die Fetzen des Alltags aufnehmen, sie weiterbilden zu surrenden, oft (be)unruhigen(den) Sprachgefügen an der Schwelle von Moment und Erinnerung, laut und leise, Selbstbeobachtung und Weltwahrnehmung, Aktion und Reaktion.
Im folgenden Gedicht hat man geradezu den Eindruck, dass die Lust an der Präsenz des Babys in pure Sprach- und Lautspiellust übersetzt wird, obgleich auch hier ein Augenzwinkern an so viel Identifikation nicht fehlt:
À grosses joues pétantes bébé joueur
Joufflu à faire joujou toujours
Bien le bonjour bouille jouissive j’ouvre
Comme à de la joie sapajou
Bouille toute de bouillie barbouillée
S’ajoute s’ajuste à une gaité
De lumière brute sans abat-jour
Loin des bajoues nonagénaires
On en pince pour le rebondi
Des fesses des petites pommes pommettes
Avec parfois deux trous fossettes
Petites fosses l’enfant a paru
Rond presque lunaire ingénu
Mouchoirs bouilloires eau pure alarme.
Verspieltes Baby mit dicken knackigen
Pausbackigen Backen um immer zu spielen
Schönen Tag prächtiges Goscherl ich öffne dich
Wie zur Freude Afferl eiei
Goscherl vollgekleckst mit Brei
Kommt hinzu und passt zu einer Fröhlichkeit
Von rohem Licht s’braucht keinen Lampenschirm nicht
Weit entfernt von neunzigjährigem Faltengesicht
Man ist so vernarrt in dieses Pralle
Der Hinterbacken der kleinen Äpfel Äpfelchen
Mit manchmal zwei Löchlein kleinen
Gruben Grübchen das Kind ist erschienen
Rundlich fast mondgesichtig unschuldig
Taschentücher Wasserkocher sauberes Wasser Zisch.
(Übersetzung: Michael Hammerschmid)
Valérie Rouzeau: VROUZ. Poésie. Paris: Éditions de La Table Ronde 2012, S. 45.
Anja Zag Golob
Anja Zag Golobs neuer Gedichtband dass nicht setzt sich mit dem Schmerz einer zuende gegangenen Beziehung auseinander und faltet aus dem Erleben und Erinnern, dem Erfühlen und Ertasten Gedichte aus, die an den Kern gehen und über den Kern hinaus. Abstraktion und Reflexion auf der einen Seite, Konkretion und Körpergegenwart auf der anderen, könnte man als wichtige Pole nennen, zwischen denen die Gedichte, die einen ganz eigenen Groove entwickeln, oszillieren. Hier das Eingangsgedicht. Es scheint auf den ersten Blick unverständlich und ist dabei doch so deutlich und direkt wie kaum etwas, einem Amalgam aus Klage und Hoffnung gleich, was sofort spürbar ist:
dass nicht
dass nicht mehr kommen wird
dass nicht dass mich brennt
dass sprieße sprießt aber
nicht erwächst nicht austreibt
wurzeln keine stiele keine blätter
nicht blüht verwelkt dass nicht
mehr kommt dass alle
alles was ist was ist
retuschierte plakate zwölf
farben ausgemergelte menschen
in bussen krächzende
vögel töne ohne terzen
überbelichtete nächte branden
an morgendämme lange
lange leer lange
schädel und dass alles
alles was ist was ist
dass mich brennt dass nicht mehr kommt
dass mehr nicht kommt dass nicht
(Übersetzung: Liza Linde)
Anja Zag Golob: dass nicht. Aus dem Slowenischen von Liza Linde. Wien: Edition Korrespondenzen 2022, S. 5.
Ilma Rakusa
»Forugh Farrochzād oder Forugh Farrochsād (englische Transkription Forough Farrokhzad, eigentlich Forūġ-Zamān-e Farroḫzād; persisch فروغ فرخزاد, DMG Forūġ-e Farroḫzād; * 5. Januar 1935 in Teheran; 14. Februar 1967 ebenda) war eine iranische Dichterin und Filmregisseurin. Sie zählt zu den bedeutendsten Repräsentanten der iranischen Moderne.« (Wikipedia)
Rund eineinhalb Jahre mitschreiben, nein, schreiben, die Tage kommen und gehen, Ilma Rakusa geht mit und hinein in die Momente der Tage, bleibt dran, durch die lange Zeit der Pandemie, und sammelt ein, horcht auf, auf die Weltereignisse, und genauso auf die Körper-, Tages-, Wortereignisse und die Nicht-Ereignisse, die Vielleicht-Ereignisse, die Schweigestillen, die Luftmomente. Im folgenden Gedicht werden die »schweren Worte« aussortiert. Und wie sehr sind sie da, die schweren Worte, wo sie doch aussortiert werden, gerade deshalb, und wie klar sind die anderen Worte und das, was sie tragen, mit einer hellen Leichtigkeit, da. Horchen Sie einmal:
Behalte den Flug im Gedächtnis!
Der Vogel ist sterblich.
Farough Farrochsad
Alle schweren Worte aussortieren
einfach sagen:
wie schön die Anemone blüht
wie gut mir der Wein schmeckt
wie erholsam der Schlaf war
wie sehr ich das Enkelchen liebe
nicht fragen:
woher komme ich?
wohin gehe ich?
in Pantoffeln die Sonne begrüßen
im Wind die Luft herzen
mit den Blicken Passanten streicheln
mit der Stille Zwiesprache halten
und der Flug trägt mich fort
sieh
2. Oktober 2021
Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Gedichte. Graz - Wien: Droschl Verlag 2022, S. 163.
Tone Škrjanec
Von Wundern wird nicht mehr viel gesprochen, sie scheinen sich aus der Welt zurückgezogen zu haben, die Religionsverwaltungen tun zwar das Ihre, den Glauben an sie noch in Bewegung zu halten, doch scheinen die Evidenzen der Zerstörung und der Kontingenz nicht mehr viel fürs Unerhörte, Zauberhafte übrig zu haben. Tone Škrjanec’ Gedicht »wunder« setzt auch prosaisch mit dem Schwarz der Krähen und dem Grau des Himmels ein. Tone Škrjanec der Wortmaler. Dann zwei Sätze zur ihrer Seltenheit. Dann zählt das Gedicht auf, die Wolke, »die ganz plötzlich aufreißt«, die Musik, »die ganz zart / mit der zunge / die spitze des geschlechtsteils berührt.« Und schließlich die Nacht, die nie ganz still ist, selbst »wenn sie völlig schwarz ist«. Und das genügt.
wunder
schwarze krähen auf dem grauen hintergrund
des septemberhimmels.
wunder geschehen nur gelegentlich.
gerade so viele, dass sie uns
diskret an sich erinnern.
eine wolke, die ganz plötzlich
aufreißt. musik, die ganz zart
mit der zunge
die spitze des geschlechtsteils berührt. die nacht,
wenn sie völlig schwarz ist
und völlig still,
ist nie völlig still.
(Übersetzung: Ann Catrin Bolton)
Tone Skrjanec: Haut. Aus dem Slowenischen von Ann Catrin Bolton. Klagenfurt: Drava Verlag 2022, S. 31.
Fiston Mwanza Mujila
»Der Sambesi ist nach Nil, Kongo und Niger mit 2574 km Fließstrecke der viertlängste Fluss in Afrika und der größte afrikanische Strom, der in den Indischen Ozean fließt.«
»Die Donau ist mit einer mittleren Wasserführung von rund 6855 m³/s und einer Gesamtlänge von 2857 Kilometern nach der Wolga der zweitgrößte und zweitlängste Fluss in Europa. Der Strom entwässert weite Teile Mittel- und Südosteuropas.«
»Der Kongo ist ein Strom in Zentralafrika. Mit einer Länge von 4374 km ist er der zweitlängste Strom Afrikas; gemessen an seiner Wasserführung von 41.800 m³/s ist er der wasserreichste Fluss des Kontinents und mit 220m Tiefe der tiefste Fluss der Welt.«
Bei Fiston Mwanza Mujila, sind die drei Flüsse, die sie gleich im Gedicht lesen werden und die er darin Haustiere nennen wird, nicht domestiziert, weil die Liebe, auch wenn sie jemanden mit Verkleinerungsform nennt oder in etwas anderes verwandelt, das Geliebte nie verkleinert oder entstellt, sondern es erweitert und vergrößert, wenn man so sagen kann, mit der Lupe der Ehrlichkeit und Phantasie. Kasala für meinen Kaku / Kasala pour mon Kaku ist ein vielstimmiger Gesang, in dem man die Trompeten, den Jazz und den Wahnsinn, den Mut und die Verzweiflung, die Generationen afrikanischen Lebens und das Gespräch mit ihnen vernimmt. Und die Flüsse sind übrigens eine Leidenschaft Fiston Mwanza Mujilas, sie fließen wie die Adern durch ihn, durch die Welt, auch durch uns:
MES AMOURS
j’ai trois animaux de compagnie
le Zambèze, le Danube, le fleuve Zaïre
MEINE GELIEBTEN
ich habe drei Haustiere
den Sambesi, die Donau, den Rio Zaire
(Übersetzung: Elisabeth Müller)
Fiston Mwanza Mujila: Kasala für meinen Kaku und andere Gedichte / Kasala pour mon Kaku et autres poèmes. Französisch und Deutsch. Aus dem Französischen von Elisabeth Müller. Graz und Wien: Ritter Verlag 2022, S. 31 (frz.), 36 (dt.).
Paul-Henri Campbell
Der Tastsinn ist ein selten versprachlichtes Wunderding, dem sich Paul-Henri Campbell im ersten »Haut« überschriebenen Kapitel seines Gedichtbandes innere organe hier gleich widmet. Das sich vielmals wiederholende »ist«, ontologisches Signum, gibt den Ton an, das »&« - in Wien vielleicht als Reinhard Priessnitz’sches Zeichen lesbar -, ist der linguistische Verschmelzer, wenn man so sagen kann, und der Tastsinn mehr als eines, möchte ich daraus ableiten, und das Gedicht auch Anrede (»du weißt«) und überhaupt wie ein (erinnerter) Moment (»im spiegel / erhaschte« »verschwunden«), ein körperlich-sinnliches Taststück, soziale Plastik, Gedicht:
vii. erinnerungen an den tastsinn #2
gebeugt ist gekehlt ist gedehnt ist kniekehlchen
ist innen & hell ist versteckt ist naja du weißt
ist zart & nur mit nacken mit kehle & grübchen
vergleichbar ist jenes blasse & sonderbar empfindliche
oft auch versäumte oft nur als rückblick im spiegel
erhaschte ist im knicks verschwunden & nicht
wie das knie geschunden ist samtig ist paarig
ist nervös ist dieses gewandte stückchen von dir
das singt sooft man daran kitzelt
Paul-Henri Campbell: innere organe. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2022, S. 14.
Ludwig Hartinger
Ludwig Hartingers dichterisches Tagebuch, geführt hier in einen dritten bzw. vierten Band, der erste erschien 2006 zunächst auf Slowenisch, dann auf Deutsch, erhascht etwas, das sonst nicht in den Blick, weder der Kameras noch der landläufigen sprachlichen Aufmerksamkeit, kommt. Wie hinter den Moment schauend, sind plötzlich Ereignisse aus Natur, Wort, Landschaft und Bewusstsein da, denen etwas Unverbrauchbares und gleichwohl Filigranes-Flüchtiges anhaftet. Ihre Poesie entsteht aus solcher Überraschung und Evidenz, lautlichen Zauberformeln verwandt.
(...)
—
in der hügelkerbe
blitzt winterglast
an der steinmauer
moost ein mondfisch
—
las auf den blütenstaub
von lidern gegensinn
und darunter retour
von allem ver-geben
—
E.A. Richter
Gegenwart ist ein Wort, das sich in E.A. Richters Fernausdehnung erweitert, verdichtet und erweitert, indem den Phänomenen, gleichsam im Einzelnen, die Referenz erwiesen wird, ihr Nennen die Dinge, Ereignisse, die inneren, äußeren, vielfältigen, zufälligen, gewünschten, zu ihrem Recht kommen lässt, auf dass sie wahrnehmbar, hörbar, sichtbar, spürbar lebendig werden und bleiben. So wie in »Poetisch denken«, das wie viele Gedichte von Fernausdehnung mit gleichsam unerschrockener Gelassenheit, ein Epitaph schreibt, ohne Verklärung, aber dem Fragen und Staunen gegenüber von entwaffnender Offenheit.
POETISCH DENKEN
poetisches Denken ergibt sich schon auf dem Fensterbrett,
auch bei geschlossenen Jalousien – enger Blickwinkel,
von draußen nur das Ungefähre, das durchscheint, je nach
Sonnen- und Mondstand. Dazu die kahlen Bäume mit Sicht
auf gestutzte Hecken, verschlossene Tore und hellblaue
Häuserfronten, fremde Gartenordnung, Eingrenzungen
mit Schlitzfenstern für Spaziergänger, mit oder ohne Hund.
Poetisch in diesem Moment der Ruhe Knallerei und Gebell,
damit Hinwendung zum aufgeregten Welpen inmitten der
Gedenkstätten an den Anschlag. Poetisch die Überbleibsel,
vertrocknete Sträuße, nicht weggewaschene Markierungen.
Poetisch die dort noch immer aufgepflanzten Wega-Polizisten,
geschwärzte Gesichter, Tarnuniformen, demonstrativ
martialisch. Aktuelle Poetik scheut sich nicht vor dem Anblick
Qiang Lis, seinem hinter die nun fest verriegelte Tür
gefallenen Schatten, nicht vor der Nachricht von angeblich
nur leichten Verletzungen, der Suche in den Spitälern nach ihm,
dem Zusammenbruch Peng Xias, Kexin Lis, Wendy Lis, hat
auch kein Problem mit dem Kreuz anstelle der Leiche
des Attentäters, auch nicht mit den Teelichtern, die jemand
immer wieder entzündet, inmitten der Markierungen der Kugeln,
der Beweiskraft wegen gleich aus dem Pflaster entfernt.
Poetisches Denken versöhnt die Dinge, nicht aber die Fragen.
Antworten verweigern sich, Fragen pflanzen sich fort.
Orte des Todes gewähren keine Verklärung, vermehren aber
Beständigkeit, nähren sich aus jedem entschwundenen Leben
Texte: Michael Hammerschmid