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Dichterloh 2023: eine GEDICHTEFAHRT

Blog, 28. April 2023
Aufzeichnung, Nahbericht, poetische Dokumentation, Auto-Biographie, Selbstbeobachtung, Entgrenzung und Vermessung, Verkörperung, Versinnlichung, Verschränkung und Grenzverschiebung, Subversion und Rebellion, Nuancierung. Mit dieser kleinen Liste an Stichworten lässt sich ein erster Cluster skizzieren, in dem sich die fünf Abende des Lyrikfestivals Dichterloh 2023 bewegen.
In der von Kurator und Moderator Michael Hammerschmid zusammengestellten Gedichtefahrt können Sie ausgewählte Gedichte der auftretenden Dichter*innen vorab lesen. Wir bedanken uns sehr herzlich bei den jeweiligen Verlagen für die Abdruckgenehmigungen der Gedichte.

Emine Sevgi Özdamar


Ein von Schatten begrenzter Raum ist ein vielstimmiges und gleichwohl sehr persönliches Epos, in dem der Schmerz über Faschismus und Staatsgewalt in der Türkei und anderswo, die Kraft menschlicher und künstlerischer Begegnungen, Belebtes und Unbelebtes, Tiere, Dinge und Menschen zum Sprechen bringt und in dem Gedichte quer durch den Text in den unterschiedlichsten Situationen und an entscheidenden Stellen auftreten und erinnert, zitiert, gesungen oder einfach nur gesprochen werden und dabei selbst erinnern, zitieren, singen und sprechen, sodass der Roman als eine Art großes, vielgestaltiges Gedicht gelesen werden kann.


Emine Sevgi Özdamar: Ein von Schatten begrenzter Raum. Roman. Suhrkamp Verlag 2021.


Valérie Rouzeau 


Hundertfünfzig vierzehnzeilige, dadurch sonettartige Gedichte schreibt Valérie Rouzeau und gibt ihnen den Namen VROUZ, aus den Buchstaben ihres Namens zusammengesetzt, und sie baut ihre Gedichte mit ähnlichem Schalk und viel Lautspiel und -lust, die Fetzen des Alltags aufnehmen, sie weiterbilden zu surrenden, oft (be)unruhigen(den) Sprachgefügen an der Schwelle von Moment und Erinnerung, laut und leise, Selbstbeobachtung und Weltwahrnehmung, Aktion und Reaktion.

Im folgenden Gedicht hat man geradezu den Eindruck, dass die Lust an der Präsenz des Babys in pure Sprach- und Lautspiellust übersetzt wird, obgleich auch hier ein Augenzwinkern an so viel Identifikation nicht fehlt:     


À grosses joues pétantes bébé joueur
Joufflu à faire joujou toujours
Bien le bonjour bouille jouissive j’ouvre
Comme à de la joie sapajou
Bouille toute de bouillie barbouillée
S’ajoute s’ajuste à une gaité
De lumière brute sans abat-jour
Loin des bajoues nonagénaires
On en pince pour le rebondi
Des fesses des petites pommes pommettes
Avec parfois deux trous fossettes
Petites fosses l’enfant a paru
Rond presque lunaire ingénu
Mouchoirs bouilloires eau pure alarme.


Verspieltes Baby mit dicken knackigen 
Pausbackigen Backen um immer zu spielen 
Schönen Tag prächtiges Goscherl ich öffne dich
Wie zur Freude Afferl eiei
Goscherl vollgekleckst mit Brei 
Kommt hinzu und passt zu einer Fröhlichkeit     
Von rohem Licht s’braucht keinen Lampenschirm nicht
Weit entfernt von neunzigjährigem Faltengesicht  
Man ist so vernarrt in dieses Pralle 
Der Hinterbacken der kleinen Äpfel Äpfelchen
Mit manchmal zwei Löchlein kleinen 
Gruben Grübchen das Kind ist erschienen
Rundlich fast mondgesichtig unschuldig   
Taschentücher Wasserkocher sauberes Wasser Zisch.

(Übersetzung: Michael Hammerschmid) 



Valérie Rouzeau: VROUZ. Poésie. Paris: Éditions de La Table Ronde 2012, S. 45.


Anja Zag Golob


Anja Zag Golobs neuer Gedichtband dass nicht setzt sich mit dem Schmerz einer zuende gegangenen Beziehung auseinander und faltet aus dem Erleben und Erinnern, dem Erfühlen und Ertasten Gedichte aus, die an den Kern gehen und über den Kern hinaus. Abstraktion und Reflexion auf der einen Seite, Konkretion und Körpergegenwart auf der anderen, könnte man als wichtige Pole nennen, zwischen denen die Gedichte, die einen ganz eigenen Groove entwickeln, oszillieren. Hier das Eingangsgedicht. Es scheint auf den ersten Blick unverständlich und ist dabei doch so deutlich und direkt wie kaum etwas, einem Amalgam aus Klage und Hoffnung gleich, was sofort spürbar ist:  


dass nicht 

dass nicht mehr kommen wird 
dass nicht dass mich brennt 
dass sprieße sprießt aber
nicht erwächst nicht austreibt
wurzeln keine stiele keine blätter 
nicht blüht verwelkt dass nicht 
mehr kommt dass alle 
alles was ist was ist 
retuschierte plakate zwölf
farben ausgemergelte menschen 
in bussen krächzende
vögel töne ohne terzen 
überbelichtete nächte branden 
an morgendämme lange 
lange leer lange 
schädel und dass alles 
alles was ist was ist 
dass mich brennt dass nicht mehr kommt 
dass mehr nicht kommt dass nicht

                            (Übersetzung: Liza Linde) 



Anja Zag Golob: dass nicht. Aus dem Slowenischen von Liza Linde. Wien: Edition Korrespondenzen 2022, S. 5.


Ilma Rakusa

    »Forugh Farrochzād oder Forugh Farrochsād (englische Transkription Forough Farrokhzad, eigentlich Forūġ-Zamān-e Farroḫzād; persisch فروغ فرخزاد, DMG Forūġ-e Farroḫzād; * 5. Januar 1935 in Teheran; 14. Februar 1967 ebenda) war eine      iranische Dichterin und Filmregisseurin. Sie zählt zu den bedeutendsten Repräsentanten der iranischen Moderne.« (Wikipedia)

Rund eineinhalb Jahre mitschreiben, nein, schreiben, die Tage kommen und gehen, Ilma Rakusa geht mit und hinein in die Momente der Tage, bleibt dran, durch die lange Zeit der Pandemie, und sammelt ein, horcht auf, auf die Weltereignisse, und genauso auf die Körper-, Tages-, Wortereignisse und die Nicht-Ereignisse, die Vielleicht-Ereignisse, die Schweigestillen, die Luftmomente. Im folgenden Gedicht werden die »schweren Worte« aussortiert. Und wie sehr sind sie da, die schweren Worte, wo sie doch aussortiert werden, gerade deshalb, und wie klar sind die anderen Worte und das, was sie tragen, mit einer hellen Leichtigkeit, da. Horchen Sie einmal: 


                Behalte den Flug im Gedächtnis! 
                Der Vogel ist sterblich. 

Farough Farrochsad


Alle schweren Worte aussortieren 
einfach sagen:  
wie schön die Anemone blüht 
wie gut mir der Wein schmeckt
wie erholsam der Schlaf war 
wie sehr ich das Enkelchen liebe
nicht fragen: 
woher komme ich? 
wohin gehe ich? 
in Pantoffeln die Sonne begrüßen
im Wind die Luft herzen
mit den Blicken Passanten streicheln 
mit der Stille Zwiesprache halten 
und der Flug trägt mich fort 
sieh 

        2. Oktober 2021



Ilma Rakusa: Kein Tag ohne. Gedichte. Graz - Wien: Droschl Verlag 2022, S. 163.


Tone Škrjanec


Von Wundern wird nicht mehr viel gesprochen, sie scheinen sich aus der Welt zurückgezogen zu haben, die Religionsverwaltungen tun zwar das Ihre, den Glauben an sie noch in Bewegung zu halten, doch scheinen die Evidenzen der Zerstörung und der Kontingenz nicht mehr viel fürs Unerhörte, Zauberhafte übrig zu haben. Tone Škrjanec’ Gedicht »wunder« setzt auch prosaisch mit dem Schwarz der Krähen und dem Grau des Himmels ein. Tone Škrjanec der Wortmaler. Dann zwei Sätze zur ihrer Seltenheit. Dann zählt das Gedicht auf, die Wolke, »die ganz plötzlich aufreißt«, die Musik, »die ganz zart / mit der zunge / die spitze des geschlechtsteils berührt.« Und schließlich die Nacht, die nie ganz still ist, selbst »wenn sie völlig schwarz ist«. Und das genügt.   


wunder 

schwarze krähen auf dem grauen hintergrund 
des septemberhimmels. 
wunder geschehen nur gelegentlich. 
gerade so viele, dass sie uns 
diskret an sich erinnern. 
eine wolke, die ganz plötzlich 
aufreißt. musik, die ganz zart 
mit der zunge 
die spitze des geschlechtsteils berührt. die nacht, 
wenn sie völlig schwarz ist
und völlig still, 
ist nie völlig still.  

(Übersetzung: Ann Catrin Bolton) 



Tone Skrjanec: Haut. Aus dem Slowenischen von Ann Catrin Bolton. Klagenfurt: Drava Verlag 2022, S. 31.


Fiston Mwanza Mujila


    »Der Sambesi ist nach Nil, Kongo und Niger mit 2574 km Fließstrecke der viertlängste Fluss in Afrika und der größte afrikanische Strom, der in den Indischen Ozean fließt.«

    »Die Donau ist mit einer mittleren Wasserführung von rund 6855 m³/s und einer Gesamtlänge von 2857 Kilometern nach der Wolga der zweitgrößte und zweitlängste Fluss in Europa. Der Strom entwässert weite Teile Mittel- und Südosteuropas.«

    »Der Kongo ist ein Strom in Zentralafrika. Mit einer Länge von 4374 km ist er der zweitlängste Strom Afrikas; gemessen an seiner Wasserführung von 41.800 m³/s ist er der wasserreichste Fluss des Kontinents und mit 220m Tiefe der tiefste Fluss der     Welt.«


Bei Fiston Mwanza Mujila, sind die drei Flüsse, die sie gleich im Gedicht lesen werden und die er darin Haustiere nennen wird, nicht domestiziert, weil die Liebe, auch wenn sie jemanden mit Verkleinerungsform nennt oder in etwas anderes verwandelt, das Geliebte nie verkleinert oder entstellt, sondern es erweitert und vergrößert, wenn man so sagen kann, mit der Lupe der Ehrlichkeit und Phantasie. Kasala für meinen Kaku / Kasala pour mon Kaku ist ein vielstimmiger Gesang, in dem man die Trompeten, den Jazz und den Wahnsinn, den Mut und die Verzweiflung, die Generationen afrikanischen Lebens und das Gespräch mit ihnen vernimmt. Und die Flüsse  sind übrigens eine Leidenschaft Fiston Mwanza Mujilas, sie fließen wie die Adern durch ihn, durch die Welt, auch durch uns: 


MES AMOURS

 

j’ai trois animaux de compagnie
le Zambèze, le Danube, le fleuve Zaïre


MEINE GELIEBTEN


ich habe drei Haustiere 
den Sambesi, die Donau, den Rio Zaire

                     (Übersetzung: Elisabeth Müller) 



Fiston Mwanza Mujila: Kasala für meinen Kaku und andere Gedichte / Kasala pour mon Kaku et autres poèmes. Französisch und Deutsch. Aus dem Französischen von Elisabeth Müller. Graz und Wien: Ritter Verlag 2022, S. 31 (frz.), 36 (dt.).


Paul-Henri Campbell


Der Tastsinn ist ein selten versprachlichtes Wunderding, dem sich Paul-Henri Campbell im ersten »Haut« überschriebenen Kapitel seines Gedichtbandes innere organe hier gleich widmet. Das sich vielmals wiederholende »ist«, ontologisches Signum, gibt den Ton an, das »&« - in Wien vielleicht als Reinhard Priessnitz’sches Zeichen lesbar -, ist der linguistische Verschmelzer, wenn man so sagen kann, und der Tastsinn mehr als eines, möchte ich daraus ableiten, und das Gedicht auch Anrede (»du weißt«) und überhaupt wie ein (erinnerter) Moment (»im spiegel / erhaschte« »verschwunden«), ein körperlich-sinnliches Taststück, soziale Plastik, Gedicht: 


vii. erinnerungen an den tastsinn #2

gebeugt ist gekehlt ist gedehnt ist kniekehlchen 
ist innen & hell ist versteckt ist naja du weißt 
ist zart & nur mit nacken mit kehle & grübchen 
vergleichbar ist jenes blasse & sonderbar empfindliche 
oft auch versäumte oft nur als rückblick im spiegel 
erhaschte ist im knicks verschwunden & nicht 
wie das knie geschunden ist samtig ist paarig 
ist nervös ist dieses gewandte stückchen von dir 

das singt sooft man daran kitzelt



Paul-Henri Campbell: innere organe. Heidelberg: Verlag Das Wunderhorn 2022, S. 14. 


Ludwig Hartinger


Ludwig Hartingers dichterisches Tagebuch, geführt hier in einen dritten bzw. vierten Band, der erste erschien 2006 zunächst auf Slowenisch, dann auf Deutsch, erhascht etwas, das sonst nicht in den Blick, weder der Kameras noch der landläufigen sprachlichen Aufmerksamkeit, kommt. Wie hinter den Moment schauend, sind plötzlich Ereignisse aus Natur, Wort, Landschaft und Bewusstsein da, denen etwas Unverbrauchbares und gleichwohl Filigranes-Flüchtiges anhaftet. Ihre Poesie entsteht aus solcher Überraschung und Evidenz, lautlichen Zauberformeln verwandt. 


(...)

in der hügelkerbe

    blitzt winterglast

an der steinmauer

    moost ein mondfisch

las auf den blütenstaub

    von lidern gegensinn

und darunter retour

    von allem ver-geben



Ludwig Hartinger: LEERZEICHEN. aus dem dichterischen tagebuch 2018-2022. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag 2022, S. 41.

E.A. Richter


Gegenwart ist ein Wort, das sich in E.A. Richters Fernausdehnung erweitert, verdichtet und erweitert, indem den Phänomenen, gleichsam im Einzelnen, die Referenz erwiesen wird, ihr Nennen die Dinge, Ereignisse, die inneren, äußeren, vielfältigen, zufälligen, gewünschten, zu ihrem Recht kommen lässt, auf dass sie wahrnehmbar, hörbar, sichtbar, spürbar lebendig werden und bleiben. So wie in »Poetisch denken«, das wie viele Gedichte von Fernausdehnung mit gleichsam unerschrockener Gelassenheit, ein Epitaph schreibt, ohne Verklärung, aber dem Fragen und Staunen gegenüber von entwaffnender Offenheit. 



POETISCH DENKEN


poetisches Denken ergibt sich schon auf dem Fensterbrett,
auch bei geschlossenen Jalousien – enger Blickwinkel,
von draußen nur das Ungefähre, das durchscheint, je nach 
Sonnen- und Mondstand. Dazu die kahlen Bäume mit Sicht
auf gestutzte Hecken, verschlossene Tore und hellblaue


Häuserfronten, fremde Gartenordnung, Eingrenzungen
mit Schlitzfenstern für Spaziergänger, mit oder ohne Hund. 
Poetisch in diesem Moment der Ruhe Knallerei und Gebell,
damit Hinwendung zum aufgeregten Welpen inmitten der 


Gedenkstätten an den Anschlag. Poetisch die Überbleibsel, 
vertrocknete Sträuße, nicht weggewaschene Markierungen.
Poetisch die dort noch immer aufgepflanzten Wega-Polizisten, 
geschwärzte Gesichter, Tarnuniformen, demonstrativ


martialisch. Aktuelle Poetik scheut sich nicht vor dem Anblick 
Qiang Lis, seinem hinter die nun fest verriegelte Tür
gefallenen Schatten, nicht vor der Nachricht von angeblich
nur leichten Verletzungen, der Suche in den Spitälern nach ihm,


dem Zusammenbruch Peng Xias, Kexin Lis, Wendy Lis, hat 
auch kein Problem mit dem Kreuz anstelle der Leiche 
des Attentäters, auch nicht mit den Teelichtern, die jemand 
immer wieder entzündet, inmitten der Markierungen der Kugeln,


der Beweiskraft wegen gleich aus dem Pflaster entfernt.
Poetisches Denken versöhnt die Dinge, nicht aber die Fragen.
Antworten verweigern sich, Fragen pflanzen sich fort.
Orte des Todes gewähren keine Verklärung, vermehren aber
Beständigkeit, nähren sich aus jedem entschwundenen Leben


E. A. Richter: Fernausdehnung. Manuskript
Abgedruckt in: Wien, Schwedenplatz polyphon. Arrangiert von Lucas Cejpek & Margret Kreidl, Sonderzahl Verlag 2023.


Texte: Michael Hammerschmid