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Dichterloh-Nachlese
Dichterloh Mai 2020, verschoben auf Jänner 2021, setzte mit Angela Krauß’ Der Strom ein und eröffnete das Festival mit der Grundfrage nach der Poesie. Poesie, aufgefasst als Lebensweise, die an der Erwartung und am »atmenden Geist« des Gedichts orientiert ist, und die ein Ich, die so genannte Poétesse, durch eine tiefgreifende krisis gehen lässt, die sie durch Raum und Zeit führt – nicht zuletzt zurück zur Wendezeit (Angela Krauß ist in der DDR aufgewachsen) und über diese auch weit hinaus.
Die zweite Stimme des ersten Abends war jene des großen norwegischen, in Schweden lebenden Dichters Jan Erik Vold (*1939), der aus Die Träumemacher Trilogie las: einem Kompendium dreier sich aus jeweils 12 Gedicht-Zyklen zusammensetzenden Gedichtbände, wobei jedes Gedicht selbst aus wiederum 12 dreistrophig organisierten Versen besteht. Äußerlich streng, innerlich in der Zeilenbrechung (oft mitten im Wort) frei und unerhört offen in der Vielfalt der Bezüge zum persönlich Erlebten, zu Politisch-Gesellschaftlichem, zu Fragen der Existenz und der Erinnerung und nach dem großen »Nada«, dem Nichts. Die Gedichtlesung auf Norwegisch erinnerte, gepaart mit der hörbar formidablen Übersetzung Walter Baumgartners, an eine Improvisation und zeigte die Präzision und Suggestion von Jan Erik Volds Bildern bei gleichzeitig innerer Beweglichkeit: Eine Art semantische Musik entstand.
Der zweite Abend setzte mit der Lesung des jungen Berliner Autors, Essayisten und Dichters Max Czollek ein, der sich mit seinem Band Grenzwerte weit hinaus und nah heran an die Darstellung von Tabus und Gewalt macht. Seine Gedichte weisen somit ein seltenes Merkmal der Gegenwartsdichtung auf: Sie regen stark zur Diskussion an, irritieren durch Bilder der Gewalt und reflektieren dabei doch immer wieder die eigene Position und nicht zuletzt das Gedicht und seine Möglichkeiten und Aufgaben.
Als zweite Lesende stellte Lidija Dimkovska ihren Gedichtband Schwarz auf weiß in der plastischen Übersetzung Alexander Sitzmanns vor. Die Gedichte Lidija Dimkovskas bauen oft eine einer absurden Logik folgende Gegen(über)welt auf, in der über die Grenzen von Raum und Zeit hinausgedichtet wird. Auch sie ist in diesem Sinne eine poetische Grenzüberschreiterin. Dabei geht es nicht nur abenteuerlich in den stark narrativ angelegten Gedichten zu, sondern es werden auch die großen Fragen, vor allem die von Liebe und Tod, gestellt, aber auch beispielsweise die des Asyls, die viele Gesellschaften derzeit zu spalten drohen. Erfahren konnte man im Gespräch unter anderem, wie Lidija Dimkovska ihre Bilder und Stoffe sammelt, um sie dann nach oft langer Zeit zu Poemen zu komponieren.
Der dritte Lesende des Abends war der russische Dichter und Übersetzer Wjatscheslaw Kuprijanow (*1939), der eine Auswahl seiner Gedichte auf Russisch und in ausgezeichnetem Deutsch gelesen hat und so einen Einblick in seine reichhaltige poetische Produktion gewährte. Auch bei Wjatscheslaw Kuprijanow geht es um den Entwurf von Gegen-Welten. Die Gedichte knüpfen an die russische Avantgarde des Absurden an. Sie entziehen sich der Alltagslogik, indem sie ihre eigene entwickeln, die den common sense aber entlarvt, karikiert und mit doppeltem Witz Spiegel der Existenz produziert. Im Gespräch drang mit voller Wärme durch, dass der eigentliche Gegenstand dieses Dichters das Humane, Menschliche darstellt, was als entwaffnende Botschaft hinter aller Poesie verstanden werden könnte (ja sollte!).
Der dritte Abend gehörte der Poesie zweier bereits verstorbener Dichter, dem tschechischen Autor Ivan Blatný (1919–1990) mit dem Band Hilfsschule Bixley, der von Annette Simon und Jan Faktor übersetzt und auch vorgestellt wurde, und vier frühen, längst vergriffenen Gedichtbänden von Gerhard Kofler, die kürzlich in einer Ausgabe zusammengefasst bei Haymon erschienen sind und welche ich in einer kommentierten Lesung vorstellen durfte. Mit Hilfsschule Bixley kann nun ein Hauptwerk des Ende der 70er Jahre wiederentdeckten, als verschollen gegoltenen Ivan Blatný auch auf Deutsch gelesen werden. Seine Gedichte gehen in die Weite verschiedenster Lebens-, Seins- und Wissensfelder (u.a. der Kunstgeschichte), reißen sie gleichsam auf, und fügen sie neu und höchst ungewöhnlich und zuweilen auch gereimt wieder neu zusammen. Ivan Blatný, ein Erbe des Surrealismus, bringt dabei Alltag und ungehemmte Poesie zündend nah aneinander. Jan Faktor und Annette Simon lieferten genau recherchierte Einblicke in sein außergewöhnliches Leben in der englischen Psychiatrie, in der er nach der Machtergreifung der Kommunisten in der damaligen Tschechoslowakei im Jahr 1948 untergetaucht war. Sie gaben zu Übersetzungsfragen Auskunft und stellten die ungewöhnliche Publikationsgeschichte des Werkes vor.
Die Beziehung zum Alltag, zum Nächsten, die in den Gedichten produktiv wird, verbindet ihn mit dem 1949 in Bozen geborenen und 2005 in Wien verstorbenen Südtiroler Dichter Gerhard Kofler. Dessen frühe Gedichte erkunden vor allem den Kindheitsraum des Autors und werfen mit der für Gerhard Kofler typischen Ironie und dem Sinn für die feinen (sozialen) Unterschiede, Licht in die schattige Welten des Südtirols der 50er und 60er Jahre. Selten sind in Wien Gedichte in Südtiroler Mundart zu hören, mit der erfreulichen Wiederauflage dieser Bände, sind sie nun auch wieder nachzulesen.
Am vierten Abend konnte – trotz Corona-Beschränkungen – ein Werk präsentiert werden, das s/eine eigene Gestalt in einer Performance fand, der aus der Werk- und Auftrittsgeschichte der französischen Autorin und Performance-Künstlerin Michèle Métail wohl auch einzig folgerichtigen Form. In Vertretung der Autorin hat der Linzer Dichter und Sprachkünstler Christian Steinbacher den von ihm ins Deutsche übertragenen, ja weiterübersetzten Band Phantome Phantome präsentiert. Er hat dafür Ton-Aufnahmen Michèle Métails eingespielt und mit instrumentalen Klang-Werkzeugen seine auch gestisch präzise »formulierte« Performance-Lesung bestritten. Die aus Redewendungen in Zehnzeilern zusammengesetzten phantomartigen Menschen-Bilder des Bandes erfuhren so im Klang-Raum der Alten Schmiede eine zündende Ver(sprach)körperung und wurden von Christian Steinbacher auch mit anderen Werkebenen seiner und Michèle Métails Arbeit assoziiert, was interessante Einblicke in die – auch gemeinsame – Arbeitsweise eröffnete.
Am fünften Abend waren noch unveröffentlichte Gedichte von sechs Dichterinnen und Dichtern zu hören. Die bulgarischstämmige Dichterin, Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Bisera Dakova machte mit sehr zarten und melancholischen Wien-Gedichten den Anfang. Dora Koderhold setzte mit ihren ebenso knappen wie bildreichen, teils auch humorvollen Gedichten fort. Und die aus dem Iran stammende, erst seit 2014, dem Jahr ihrer Ankunft in Österreich, Deutsch lernende Asiyeh Panahi überraschte mit Gedichten aus ihrem Notizbuch, deren existenzielle Setzung den Atem anhalten ließen. Laurenz Rogis Gedichte fanden einen Grat zwischen den großen Fragen und Gefühlen und der Evokation des eigenen Alltags. Und Maë Schwinghammer stellte das Buch-Projekt Covids Metamorphosen vor, in dem auf der Folie der Antike die gegenwärtigen Wandlungen und rasanten Veränderungen durch die Corona-Pandemie in sprachwachen Poemen dargestellt und erforscht werden. Benedikt Steiner beschloss den Abend mit lesender Unterstützung von Laurenz Rogi und Maë Schwinghammer in einer Performance, bei der der Zufall als Akteur in (akustische) Erscheinung trat: Die offen geformten, schwebend gesetzten Gedichte Benedikt Steiners wurden von dem Performance-Trio quergelesen zu neuen poetischen Formen verfugt.
Am letzten Abend des Festivals waren Gedichte aus den beiden jüngsten Gedichtbänden von Kurt Aebli und Angelika Rainer zu hören. Kurt Aebli las seine schrittweisen poetischen Erkundungen von Natur und Selbst aus En passant mit einem wiederkehrenden Gedicht als Refrain und ließ so die ganze Lesung gedichtartig werden. Abseits vom alles zutönenden Gerede, wie er im Gespräch preisgab, und diesem entgegengesetzt, finden die Gedichte Kurt Aeblis ihren Takt und ihre skulpturhafte Gestalt in ungeschönter Genauigkeit und Konzentration. Angelika Rainers See’len-Gedichte haben schließlich in der letzten Lesung des Festivals Schichtungen von der beobachtend, benennenden Gegenwart von Seen-Wanderungen bis in die sprachlichen und mythischen Tiefenschichten verschiedener Erzählungen, Wahrnehmungen und Erinnerungen freigelegt.
Michael Hammerschmid
Asiyeh Panahi las im Jänner 2021 im Rahmen des Lyrikfestivals Dichterloh unter anderem ihr Gedicht «Wassermelonen».
Wassermelone
Ich schneide die Einsamkeit im Sommer
in Wassermelonenstücke,
drehe ihr Gesicht zum Hof
und sage zu einem von ihnen:
Sing!
Wie die Kehle des Mannes auf dem Motorrad,
als dieser noch lebte.
Und sein Kopf sieht aus
wie eine zerplatzte Melone auf Asphalt.
Ich gebe Maryam das bittere Stück
und sage:
Blut ist nur in deinem Mahlheft rosa.
Du kannst die schwarzen Kerne nicht ausspucken,
sie bleiben bei dir
und du wächst mit grüner Galle in deinem Magen, die du erbrichst,
und du wirst so erwachsen,
dass du, ohne es zu sehen,
glaubst, an all das Rot
wie an die Blutklumpen
und das Stechen in deiner Kehle.
Asiyeh Panahi
Veröffentlicht im Jahrbuch österreichischer Lyrik, SISYPHUS – Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags.
Asiyeh Panahi, *1998 im Iran, Kindheit im Flüchtlingslager Torbat-e Jam, lebt seit 2014 in Graz, wo sie Rechtswissenschaften studiert.