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Ein Mensch, der keine Angst kennt, ist schwer vorstellbar
Apropos Angst
von Friederike Gösweiner
Einer der Allerersten, die das Manuskript meines zweiten Romans gelesen haben, hat mir vor ein paar Wochen als Reaktion auf meinen Text geschrieben, er wünsche mir »ein angstfreies Leben«. Ich weiß, dass ich mich, als ich das las, spontan ertappt gefühlt habe. Der Wunsch war mir peinlich. Denn wenn man mir ein angstfreies Leben wünschen muss, ist davon auszugehen, dass meines – nach Lektüre meines Romans jedenfalls – wie ein von Angst bestimmtes wirkt. Und in der Gesellschaft, in der ich aufgewachsen bin und in der ich lebe, ist Angst nichts, worauf man stolz ist, und so war auch ich es im ersten Moment nicht.
Angst ist in dieser Gesellschaft ein Gefühl, das man überwinden soll und vor allem: das man überwinden kann – mit dem richtigen Mindset. Jedenfalls lese ich das aus den Millionen Video-, Bild-, Ton- und Textdokumenten, die die Geschichten jener Individuen, die diese Gesellschaft als Helden verehrt, erzählen und ihren Ruhm begründen. Angst spielt in diesen Heldengeschichten eine zentrale Rolle. Das Narrativ ist dabei immer das gleiche: Ein Individuum will etwas erreichen, setzt sich ein Ziel. Es hängt sein Herz daran. Damit kommt die Angst ins Spiel – bewusst und/oder unbewusst. Denn wer etwas will, wer etwas begehrt, hat immer Angst, es nicht zu bekommen. Angst und Begehren sind untrennbar miteinander verbunden. Das Individuum weiß das, aber das Begehren, das Ziel zu erreichen, und das Selbstvertrauen, es auch erreichen zu können, sind größer als die Angst zu scheitern. Also macht es sich auf den Weg. Bald stößt es jedoch auf ein Hindernis. Dabei gilt in der Regel: je schwieriger das Ziel, desto größer dieses Hindernis. Das Individuum erlebt diesen Moment als Prüfung, es gerät in eine Krise, droht zu scheitern. Seine Angst wird immer größer, doch es gibt nicht auf. Und dann, plötzlich, gelingt es doch, das Individuum überwindet das Hindernis, erreicht sein Ziel. Es hat gesiegt, die Angst ist fort, das Individuum fühlt sich beglückt.
Vielleicht ist das für mich sogar das Grundnarrativ dieser Gesellschaft, die oft auch die freie Welt genannt wird: der Glaube an ein vollkommen freies Individuum, das alles erreichen kann, was es will, wenn es sich nur wirklich und wahrhaftig anstrengt und über sich hinauswächst – das ist die zentrale Wendung, die für mich viel mit Angst zu tun hat. Denn Angst, vom lateinischen angustus abgeleitet, bedeutet buchstäblich Enge. Angst limitiert und macht klein. Nach dem Grundnarrativ der freien Welt, die nicht umsonst auch Wachstumsgesellschaft heißt, kann diese Angstenge abgelegt werden, denn sie glaubt fundamental an die Wachstumsfähigkeit des Individuums. Jede und jeder, sagt diese Gesellschaft, kann mit dem richtigen Mindset Heldin und Held sein.
Dieses Grundnarrativ hat damit zwangsläufig aber auch etwas Grausames. Denn scheitert ein Individuum bei seiner Zielerreichung kontinuierlich, liegt der Fehler einzig in ihm selbst. In einer Gesellschaft mit Heldenimperativ greift dies den Selbstwert eines Individuums gefährlich an. Und mehr noch: Es ist auch existenziell gefährdet, denn die freie Welt ist auch eine Leistungsgesellschaft, das Nichterreichen von Zielen wird sanktioniert. Ein Mindestmaß an Zielerreichung und damit an Angstüberwindung bzw. individuellem Wachstum ist die Eintrittskarte in die freie Welt. Nur wer diese Hürde nimmt, ist ihr vollwertiges Mitglied.
Davon, wie es sich anfühlt, als Scheiternde in dieser Wachstums- und Leistungsgesellschaft zu leben, erzählt mein erstes Buch, Traurige Freiheit. Die Heldin darin heißt Hannah wie Johanna von Orléans oder die Heilige Johanna der Schlachthöfe, denn auch sie befindet sich gewissermaßen in einem Krieg, weil das Grundnarrativ der freien Welt zwangsläufig genau dies bewirkt: Wenn im Fokus einer Gesellschaft einzig die Erreichung des ureigenen individuellen Ziels steht, tobt ein permanenter Kampf jedes gegen jeden auf dem Weg zu seinem Ziel.
Hannah hat die schwierige Aufgabe gemeistert, ein Ziel zu finden, von dem sie glaubt, dass es sie glücklich machen wird und finanziell trägt. Sie opfert, um für die Erreichung dieses Ziels alles tun zu können, am Beginn die Beziehung zu ihrem Freund, opfert ihre Liebe. Doch dann scheitert sie, ohne dass ihr eine äußere Instanz sagen würde, warum bzw. woran. Es gibt offenbar einfach zu viele, die dasselbe Ziel haben wie sie. Durch einen Zufall begegnet sie einem in ihrem Metier sehr erfolgreichen Mann. Sie weiß, sie könnte dieses »Vitamin B« vielleicht für sich nutzen, um mithilfe dieses Beziehungsdopings doch noch an ihr Ziel zu kommen, doch sie bringt es nicht fertig. Am Ende bleibt unklar, ob Hannah ihr Leben womöglich selbst beenden wird, ob sie sich ein neues Ziel setzen wird oder allen Rückschlägen zum Trotz einfach weiter am ursprünglichen Ziel festhalten wird. Ihre Wahl oder Handlungsfreiheit am Ende ist buchstäblich die titelgebende traurige Freiheit.
Ein eindeutiges Ende hätte ich damals als logisch falsch empfunden, weil es letztlich von der individuellen Disposition abhängt, wie man mit diesem Angabefehler der Gesellschaft umzugehen in der Lage ist. Was ich zeigen wollte, war lediglich, dass aus diesem Grundnarrativ der freien Welt, dieser Wachstums- und Leistungsgesellschaft, ein immenses Maß an Angst resultieren kann, eine existenzielle Angst, wie sie Hannah in meinem Text empfindet, mit einem enormen Potenzial zur Selbstzerstörung eines Individuums.
Das Buch hat die Form einer Novelle, jener strengen, klassischen Erzählform, in der der unberechenbare Zufall oder eine schicksalhafte Wendung die entscheidende Rolle spielt für den Ausgang der Erzählung. Ich glaube heute, ich wollte damit dieses Paradoxon aufzeigen zwischen dem selbstverständlich gültigen, strengen Narrativ des Glaubens an die Wachstumsfähigkeit und den Sieg des Individuums einerseits und dem Faktum des Zufalls andererseits, dem diese Gesellschaft zu einem logisch nicht begründbaren großen Teil die Entscheidung darüber überlässt, wer zu den Siegern zählt und wer zu den Verlierern. Dieses Faktum der nicht notwendig großen oder nicht logisch argumentierbaren Bedeutung des Zufalls in der freien Welt hatte ich damals als einen ersten Angabefehler auszumachen geglaubt im Grundnarrativ dieser Gesellschaft.
Wahrscheinlich hätte man mir also schon nach diesem ersten Buch ein angstfreies Leben wünschen können oder zumindest: dass mir nicht widerfährt, was meiner Heldin widerfährt. Tatsächlich habe ich das auch mehrfach gehört: dass ich es selber durch mein Buch – zum Glück – im Gegensatz zu meiner Hannah, die vorerst scheiternd bleibt, doch noch geschafft hätte und nun erfolgreich sei. Und dem war auch so. Aber auch diese Reaktion hat mich – ähnlich wie der Wunsch eines angstfreien Lebens – irritiert.
Vielleicht hat nicht zuletzt diese von anderen wiederholt geäußerte Erleichterung über meinen eigenen Erfolg unmittelbar zu der Angabe geführt, die ich mir für mein zweites Buch gegeben habe, denke ich heute. Denn darin geht es um eine Angst, die uns alle betrifft, der keiner entkommen kann, weder durch den größten glücklichen Zufall dieser Welt noch mit dem richtigen Mindset, weshalb sie von der freien Welt auch meiner Beobachtung nach mit aller Konsequenz negiert wird. Es geht um die fundamentalste aller Ängste, die Ur-Angst jedes Systems mit Bewusstsein: die Angst, die der Tod in uns auslöst, als Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen und als Angst vor dem eigenen Sterben.
Und es geht noch einmal um die Frage nach dem Glück bzw. dem Zufall. Denn es hat mich nicht losgelassen, was diese mir gegenüber geäußerten Erleichterungsbekundungen zu meinem Erfolg aussagen, zum Beispiel über den Begriff der Gleichheit – neben der Freiheit der zweite Kernbegriff der freien Welt – und auch über ihren Begriff von Glück.
In meinem zweiten Roman – er heißt Regenbogenweiß und erscheint kommenden Februar – wird eine Akademiker-Kleinfamilie mit einem plötzlichen Todesfall konfrontiert. Der Vater stirbt, die Mutter und die beiden erwachsenen Kinder trauern auf je eigene Weise. Aber sie trauern alle. Und diese Trauer beeinflusst sie in ihrer jeweiligen Suche nach dem Glück, wie wir sie alle auf je eigene Weise betreiben, weil Glück das eine Gefühl ist, das uns den Tod – und unsere Angst vor ihm – vorübergehend vergessen lässt.
Was ich versuchen wollte, war, dieses alltäglichste, typische Zeitgeschehen in Europas Hier und Heute zwar in einer Fiktion zu schildern, es zugleich aber implizit wissenschaftlich zu kommentieren. Denn die Wissenschaft ist in meinen Augen die beste heute bekannte Methode, den Kosmos und uns selbst und also auch diese abstrakten Begriffe, die mich beschäftigt haben, wie Glück oder Gleichheit, zu verstehen, sie spielt aber in dieser Gesellschaft nicht jene fundamentale Rolle, die ihr in meinen Augen daher zukommen müsste. – Das war der nächste Angabefehler, den ich im Denksystem dieser Gesellschaft entdeckt zu haben geglaubt habe und der gerade in Bezug auf Angst von zentraler Bedeutung ist.
Deshalb sind meine Figuren diesmal Wissenschaftler. Und deshalb ist der Roman – soweit dies einem fiktionalem Werk möglich ist – auch nach wissenschaftlichen Kriterien gearbeitet, das heißt, er basiert nur dort wo unbedingt nötig auf Erfindung und nutzt so viele nachprüfbare Fakten wie nur möglich.
Wenn man sich der Welt wissenschaftlich annähert, wie das meine Figuren im Roman tun – der Sohn ist Kosmologe und also Physiker, die Tochter Philosophin und also Metaphysikerin –, pflegt man einen anderen Umgang mit der Angst als das grundlegende Narrativ dieser Gesellschaft ihn nahelegt. Wer philosophisch denkt – wie das jede Wissenschaft tut, insofern sie sich an die Gesetze der Logik hält –, denkt nie nur als das Individuum, das er ist. Er denkt immer auch an alle anderen Individuen, denn die Philosophie versucht allgemein gültige Wahrheiten zu finden, und nicht bloß individuelle Aussagen zu tätigen. Deshalb denkt die Philosophie immer den worst case. Sie geht nicht von irgendeinem Fall aus, um Schlüsse zu ziehen, sie geht vom schlimmstmöglichen Fall aus, um herauszufinden, wie etwas sein soll. Wenn der schlimmstmögliche Fall nicht akzeptabel wäre für jeden Menschen, darf er nicht sein – sofern er vermeidbar erscheint, dieser Zusatz ist von fundamentaler Bedeutung.
Wer philosophisch denkt, wird also niemals ein angstfreies Leben führen, und so tun es auch meine Figuren in Regenbogenweiß nicht. Sie verdrängen den worst case in Gedanken nicht, sondern stellen sich ihm, suchen ihn bewusst auf, setzen ihr ureigenes individuelles Erleben in Beziehung zu jenem aller anderen Individuen – so gut das im Moment gelingen kann. Diese ihre Haltung ist der freien Welt mit ihrem Imperativ zum rein individuellen, positiven Denken vollkommen fremd geworden. Ich selber bin jedenfalls für meine Angewohnheit, philosophisch zu denken, oft kritisiert worden. Ich gelte vielen als zu negativ. Ich habe mich früher selber auch oft gefragt, warum es mich so sehr dort hinzieht – zum schlimmstmöglich denkbaren Fall. Über das Schreiben von Regenbogenweiß glaube ich es endlich verstanden zu haben.
Das überindividuelle, unpersönliche, logische Denken der Philosophie bewahrt mich davor, wahnsinnig zu werden angesichts des Unglücks in der Welt und meiner eigenen (sinnlosen) individuellen Existenz darin. Die Philosophie hilft mir, den Unterschied zwischen dem notwendigen oder: unvermeidbaren und dem nicht notwendigen, d. h. vermeidbaren Unglück zu sehen. Und sie hilft mir auch im Umgang mit jener einen größten unvermeidbaren Angst vor dem Tod, die der große blinde Fleck dieser Wachstums-, Leistungs- und Individualitätsgesellschaft ist, weil er jedes Wachstum vernichtet, Leistung verunmöglicht und alle Individuen einander angleicht. Aus dem Fehlen eines adäquaten Umgangs mit der Angst vor dem Tod resultiert in meinen Augen sehr viel – vermeidbares – Unglück in dieser Welt. Auch davon erzählt mein zweiter Roman. Im Grunde fordert er eine Art philosophische Revolution, als zweites, alternatives Narrativ zu jenem, das dieser Gesellschaft zugrunde liegt – weil ich glaube, dass nur dieses philosophische Mindset unsere Welt noch retten kann.
© Text: Friederike Gösweiner
Wohin mit der Angst?
von Mascha Dabić
In der deutschen Sprache hat man Angst, wie man auch Hunger hat, und Recht, Zeit, Geld, Wut, Glück oder Not hat; so wie man auch jemanden lieb hat. »Ich hab Angst«, sagt man, so als könnte man sie, die Angst, auch wieder weglegen, wie einen Bleistift aus der Hand, oder loswerden wie eine Grippe, die man eine Zeitlang hat und die dann den gepeinigten Organismus wieder verlässt. Dass es vielmehr die Angst ist, die einen hat, nämlich im Würgegriff, das lässt die Sprache außen vor. Die deutsche Sprache unterscheidet außerdem zwischen Angst – dem beklemmenden Gefühl der potenziellen Bedrohung – und der Furcht, die durch eine bestimmte Situation konkrete Züge annimmt.
Im Englischen, wo man seinen Kaffee haben kann (I’ll have my coffee with sugar and milk please), ist man in Bezug auf die Angst (I am afraid, are you scared?). Die Angst hat als Begriff neben Weltschmerz und Blitzkrieg den Sprung ins Englische geschafft, »German Angst« steht sowohl für Zögerlichkeit und Zurückhaltung wie auch für panikartige Reaktionen.
Im Russischen wiederum manifestiert sich die Angst als ein Verb, я боюсь (ja bojus’) – kann man sich im Deutschen vorstellen als ein »ich ängstige mich«, es gibt aber auch die Möglichkeit zu sagen мне страшно (mne strašno): diese Konstruktion, bestehend aus einem Dativ und einem Adverb, lässt sich grammatikalisch wie ein »Mir ist schrecklich« beschreiben. Strašno, vom Substantiv »strah« – Angst - kommend, ist zwischen dem Russischen und dem Serbokroatischen so etwas wie ein falscher Freund, denn das gleich klingende Wort »страшно« / »strašno« wird in der Bedeutung furchtbar, schrecklich, grauenerregend verwendet – also eher bezogen auf das, was Angst macht als auf das eigene Angsterleben.
Viele Wörter und Worte also, um ein Erleben zu fassen, das oft sprachlos macht und eine zutiefst körperliche Erfahrung darstellt. Angst überzieht das Gesicht mit Blässe, lässt Blut in den Adern erstarren, die Knie erzittern, den Magen sich zusammenkrampfen, den Schweiß ausbrechen – all das gleichzeitig und noch viel mehr.
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Vor zwei Jahren offenbarte sich mir in einer idyllischen Szenerie das Wesen der Angst aus einer kollektiven Perspektive. Ich lag am Strand einer kroatischen Insel, wo ich jeden Sommer als Tutorin im Rahmen eines Übersetzungsseminars tätig bin. Gemeinsam mit meinen Kolleginnen und einigen Studenten trockneten wir Haut und Haar in der Sonne und schauten auf die Mole. Mole, dieses seltsame Bauwerk aus Beton, von dem Kinder kreischend hinunterspringen und wo zwei Mal am Tag ein Schiff anlegt, genau genommen ein Katamaran – im Übrigen, ein schönes Wort, Katamaran, das, würde man gar nicht meinen, aus dem Tamilischen stammt, kattumaram von kattu für Band, Bündel, und maram »Baum«, im Sinne von »Boot aus zusammengebundenen Baumstämmen«. Jedenfalls, wie wir da lagen und auf die Mole hinausschauten, stellte sich heraus, dass für jede von uns diese Mole – auch - ein Ort der Angst ist: Meine jüngere Kollegin S. hat panische Angst vor dem Gras, das auf dem Meeresgrund wächst und von oben dunkel aussieht; bemerkt sie beim Schwimmen, das unter ihr eine Grasfläche ist, stößt sie unwillkürlich spitze Schreie aus und schwimmt hektisch weiter, dorthin, wo das Wasser heller ist. Meine ältere Kollegin A. hat panische Angst vor dem Katamaran. Als Kind hat sie miterlebt, dass ein Mann, Vater einer Freundin, ein Bein verlor, weil er die Geschwindigkeit eines herannahenden Schiffs unterschätzt hatte. Daher drängt A. rund um die Mole alle aus dem Wasser, sobald der Katamaran sich als graues Pünktchen am Horizont abzeichnet: »Sobald ihr es in der Ferne sehen könnt, sofort raus!« Studentin K. hat panische Angst vor den Seeigeln: Sie ist auf einen Igel gestiegen und musste anschließend viele Stunden darauf warten, dass die schwarze übelriechende Zugsalbe die Stacheln allmählich an die Oberfläche beförderte. Die kleine Bucht neben der Mole ist übersät von einer regelrechten Seeigelkolonie – spricht für die Sauberkeit des Gewässers.
Und ich – ich habe panische Angst vor dem Springen. Die Mole ist keine zwei Meter hoch, dennoch ist für mich der Sprung ins Wasser jedes Mal aufs Neue an der Grenze des Erträglichen. Es nützt nichts, dass ich nach einer Millisekunde im freien Fall wohlbehalten im Wasser ankomme, den Auftrieb spüre und erlöst wieder auftauche, Salzwasser in der Nase. Nein, kaum stehe ich wieder oben auf der Mole, geht das Theater von vorne los: Die Angst erfasst mich, macht sich ungebeten in meinem Körper breit, die Springblockade ist wieder da, das Hirn abermals entmachtet. Nach unzähligen solchen Mini-Mole-Dramen, bei denen man von außen nichts anderes sehen kann, als eine Gestalt, die ungewöhnlich lange aufs Meer hinausstarrt, bevor sie sich irgendwann plötzlich wie ein Sack fallen lässt – während die Kinderschar daneben zeitgleich schon zehn oder fünfzehn Mal den Kreislauf Springen-Kreischen-ÜberdierutschigeLeiterwiederhochklettern–Springen–Kreischen-ÜberdierutschigeLeiterwiederhochklettern absolviert hat, also nach vielen solchen Momenten der stummen Angst an der Mole, habe ich einen rettenden Einfall: Augen zu und durch. Mit geschlossenen Augen lässt sich der freie Fall etwas leichter ertragen. Aber die eigentliche Lösung kommt erst später, und sie lautet schlicht und ergreifend: Nicht mehr von der Mole runterspringen. Sich die Freiheit nehmen, diese ohnehin unnötige und zweckfreie Angstübungssituation zu vermeiden. Vor der Angst kapitulieren, die Angst oben auf der Mole stehen lassen. Ja schon, die frühere Angst vor Spritzen hatte sich einst durch das Plasmaspenden endgültig vertreiben lassen. Aber die Angst vor dem nicht metaphorischen, sondern höchst konkreten Sprung ins kalte Wasser, die lässt sich, und das ist der springende Punkt, durch nichts vertreiben, nicht einmal durch den Sprung ins kalte Wasser selbst.
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Was das alles mit Literatur zu tun hat?
Abgesehen davon, dass eine Schreibblockade – die Angst vor dem leeren Blatt, vor dem ersten hingeschriebenen Satz – sich ähnlich anfühlen kann wie die Angst vor dem Schritt in die Bodenlosigkeit, ist die Literatur ein Medium, in dem das Angsterleben sich einigermaßen sprachlich erfassen lässt oder auch unausgesprochen als Leerstelle seine Wirksamkeit entfalten kann.
Kaum ein Autor hat in mir mehr Angst auszulösen vermocht als Franz Kafka. Ich reagiere geradezu körperlich auf seine Texte. In der Strafkolonie löst bei mir Beklemmungen und Brechreiz aus. Mehr Ekel als Angst.
Klaustrophobisch-ängstlich macht mich Kafkas Kleine Fabel, und zwar jedes Mal aufs Neue, so wie der Sprung von der Mole, aber im Unterschied zum zweckfreien Angstsprung ins Wasser lohnt sich die wiederholte Lektüre der Kleinen Fabel:
»Ach«, sagte die Maus, »die Welt wird enger mit jedem Tag. Zuerst war sie so breit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese langen Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe.« – »Du mußt nur die Laufrichtung ändern«, sagte die Katze und fraß sie.
Dieser kleine Text bleibt immer gleich, aber ich als Leserin erlebe stets neue Assoziationen dazu, so wie ein Märchen mit seinem vertraut-tröstendem Wortlaut in jeder neuen Lebensphase eine neue, bis dato ungeahnte Lesart offenbart. Noch vor zwei Jahren hätte ich mir nicht vorstellen können, dass eines Tages beim Lesen der Kleinen Fabel seltsame Begriffe in meinem Kopf auftauchen würden, Namen, die zum damaligen Zeitpunkt keinen Sinn ergaben: Corona, Omikron, Delta-Variante, Absonderungsbescheid, Grüner Pass, PCR-Test, 2G, 1G, Long Covid. Kafkas Kleine Fabel, so scheint es, eignet sich als Kurzfassung einer jeden gesellschaftlichen Dystopie, ob real oder fiktiv oder beides.
Bei Literatur und Angst muss ich außerdem unweigerlich an eine Szene aus Thomas Manns Zauberberg denken, die sich einen festen Platz in meinem literarischen Gedächtnis ausbedungen hat. Es geht um eine kurze Episode rund um ein junges Mädchen namens Barbara Hujus, die in Panik gerät, als ihr klar wird, dass sie das Sterbesakrament empfangen soll. Hans Castorp erfährt diese Geschichte von seinem Vetter Joachim Ziemßen:
»Sie war auch schwach«, erwiderte Joachim. »... Ach, zu erzählen gäbe es viel; es ist schwer, die erste Auswahl zu treffen ... Schwach war sie schon, es war nur die Angst, die ihr soviel Kräfte gab. Sie ängstigte sich eben fürchterlich, weil sie merkte, daß sie sterben sollte. Sie war ja ein junges Mädchen, da muß man es schließlich entschuldigen. Aber auch Männer führen sich manchmal so auf, was natürlich eine unverzeihliche Schlappheit ist. Behrens weiß übrigens mit ihnen umzugehen, er hat den richtigen Ton in solchen Fällen.«»Was für einen Ton?« fragte Hans Castorp mit zusammengezogenen Brauen. »›Stellen Sie sich nicht so an!‹ sagt er«, antwortete Joachim. »Wenigstens hat er es neulich zu einem gesagt – wir wissen es von der Oberin, die dabei war und den Sterbenden festhalten half. Es war so einer, der zu guter Letzt eine scheußliche Szene machte und absolut nicht sterben wollte. Da hat Behrens ihn angefahren: ›Stellen Sie sich gefälligst nicht so an!‹ hat er gesagt, und sofort ist der Patient still geworden und ist ganz ruhig gestorben.«
So wie der Weg der Maus entweder in die Falle oder ins Katzenmaul führt, so führt Leben unweigerlich in den Tod. Die Angst vor dem Tod – die von der Todesangst zu unterscheiden ist – ist eine, mit der wir alle leben, mal besser mal schlechter, mal schlecht, mal ganz recht. Hand aufs Herz, die Aussicht auf das sichere Ende, dieses eine verlässlich leuchtende, flimmernde Exit-Schild im dunklen Kinosaal, kann in manchen Momenten auch ein Trost sein. Als Lebewesen stehen wir ausnahmslos in einer scheinbar unendlich langen Warteschlange, die unerbittlich in den Tod führt – wir wissen aber nicht, und das ist Fluch und Segen zugleich, wer wann an der Reihe ist. Die Hoffnung auf eine chronologische Reihenfolge – die Älteren zuerst – hält sich wie ein hartnäckiges Gerücht und wird oft genug bitter enttäuscht.
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Wohin also mit der Angst?
Literatur kann die Angst nicht lindern, das ist gar nicht ihre Aufgabe. Im Übrigen hat die Literatur keine Aufgabe, und das ist gut so, das ist das Schöne an ihr. Literatur kann, sofern man sie lässt, helfen, eigene und fremde Ängste in einem anderen Licht zu sehen, die vielen Facetten der Angst auszuloten. Angst lässt sich nicht aus der Welt schaffen – jeder Versuch, sie zu vertreiben, führt unweigerlich dazu, dass sie sich durch die Hintertür neue, womöglich mächtigere Wege bahnt.
Text: © Mascha Dabić
Drei Antworten auf Pedro Rosa Mendes´ Erinnerungen an Wolf Böwig
von Marko Dinić
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Eine Frage soll diesem Essai vorausgehen: Ob die Auseinandersetzung mit der Furcht statt mit der Angst nicht zuträglicher sei für ein Unterfangen, das nicht nur im Wort verhakt, sondern auch der Tat verpflichtet sein will. Manifestiert sich in ersterer noch der Funken Zuversicht, erscheint die Angst als hermetische Einheit – ein Höllenkreislauf, den zu durchbrechen mehr als nur des nackten Willens vieler bedürfte. Furcht (und ich rede hier von der menschlichen Furcht) lässt die Gefahren gesellschaftlicher Konstrukte in zeitiger Voraussicht erahnen. Die Angst aber konstituiert Voreingenommenheiten. Sie ist der Ist-Zustand einer sich festigenden Resignation, die, einmal unter die Gesellschaft gebracht, zum identitätsstiftenden Negativ ganzer Generationen werden kann. Der Angst ist die Ausweglosigkeit ebenso eingeschrieben wie der Umstand, überrationalisierten Aspirationen der Macht als Instrument vorderster Wahl zu dienen.
Oder aber es ist umgekehrt, und die Gewalt ist der Begriff, mit dem man sich auseinandersetzen müsste, um über die Angst reden zu dürfen. Wie dem auch sei: Die drei vorliegenden Kapitel dieses Essais (der in Wahrheit eine Allegorie sein will) sollen ein Versuch bleiben, sich der Furcht, der Angst und der Gewalt auf Umwegen zu nähern. Ausgangspunkt bildet ein Text des portugiesischen Schriftstellers Pedro Rosa Mendes, der sich mit dem Werk Wolf Böwigs beschäftigt, eines Kriegsfotografen, in dessen Fotoreportagen aus Bürgerkriegsländern wie Burma, Sierra Leone, Guinea-Bissau, Afghanistan oder Jugoslawien das Trauma (noch so ein Begriff, der sich an der Angst reibt) eine zentrale Rolle einnimmt.
Die Freiheit des einzelnen steht in keinem Zusammenhang mit der Beschaffenheit einer Gesellschaft, wenn dieselbe keine Erinnerung mehr besitzt an eine Vorstellung von der Freiheit (welche Vorstellung von Freiheit hat beispielsweise ein Mensch in Afghanistan, der im selben Jahr wie ich geboren wurde (1988), wenn in seinem Land seit 1978 Krieg geführt wird). In dieser Erkenntnis verklumpt die Furcht zur Ahnung einer allumfasslichen Gewalt, die nicht in unserer Vergangenheit zu suchen ist, noch in einer fernen Zukunft – die Angst ist unsere Gegenwart und unsere Gegenwart gleichgültig.
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Die Rebellen ließen [Moire] nach seinem Vater suchen, setzten ihn, als er ihn gefunden hatte, auf dessen Leichnam und erklärten ihn zum »Fürsten der Toten«.
Im selben Jahr, da der Junge namens Moire seinen Thron bestieg und zum Fürsten der Toten erkoren wurde, war ich vierzehn Jahre alt geworden.
Einige Jahre zuvor hatte die Erde noch gebebt. Bomben waren auf meine Heimatstadt gefallen. Ich verstand nichts davon, und die Erwachsenen mögen grimmig in sich hineingelacht haben – die Zeiten waren rau. Das Kind dachte, eine Welt vorgefunden zu haben in ihrem natürlichen Trott. Wir und Sie waren keine Konzepte, sondern Wörter. Und bis jemand sich erbarmte, uns die Wörter zu erklären, blieben wir stumm gegenüber unsern Nachbarn, den Totmachern. Mit vierzehn Jahren – wir waren gerade in den Westen gezogen – kannte ich bereits alle Wörter auswendig. Doch es fand sich niemand, mich vor ihnen zu warnen. Wörter nämlich sind kontaminierte Körperschaften, fähig, die Erde beben zu lassen – meinen Nachbarn totzuschlagen. Wörter lassen auf Menschen schließen.
Moire – der Junge auf dem grausamen Thron, der früher sein Vater gewesen war – wusste, so stelle ich es mir heute vor, heute, da ich versuche, Wörter zum Schweigen zu bringen mit jedem geschriebenen Wort – Moire wusste um die Eigenschaften der Wörter, noch bevor sich jemand fand, sie ihm zu erklären. Er hatte früh genug den Menschen kennengelernt, den Horror, mit dem er seine Wörter aufwiegt: »F ü r s t d e r T o t e n« – nur ein weiterer Beitrag zur unermesslichen Niedertracht jener, die unsere Eltern morden und mit ihnen ihre Geschichten, ihre Gesichter, Kulturen.
Oder tragen nicht unsere Eltern die Gesichter der Schlächter?
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Mein Dolmetscher hatte sechs Kinder. Von einem neugeborenen bis hin zu erwachsenen, wie Orgelpfeifen. Als wir ins Dorf kamen, konnte man immer noch erkennen, wo Dostums Leute die Köpfe der Kinder zerschmettert hatten. Ein Fleck ... Es sah so aus, als hätten sie die Opfer an den Fußgelenken gepackt oder so ähnlich, denn an den Beinen der Säuglinge waren immer noch die bläulichen Abdrücke von Händen zu sehen. Die Köpfe ... Einfach so. Junge Schädel sind weich. Ich ging in eines der Häuser, und da lag die Leiche eines Mädchens. Ich konnte nicht genau erkennen, was mit ihr geschehen war, denn ihr Kleid war hochgezogen und bedeckte ihren Kopf. Ich meine die Stelle, wo ihr Kopf sein musste. Mein Dolmetscher schrie auf. Er schrie und schrie und schrie. Ich ging hinaus und hob die Hände: Wie? Wie? ...
Wie? ist eine Kernfrage der Kunst. Bei der Suche nach Form stellt sich der Künstler zwangsläufig die Frage nach dem Wie?. Wie? ist der natürliche Vorgänger von Form. Die Form als solche ist kalt. Sie allein ist lediglich Experiment. Die Form mit Inhalt aufzuwiegen ist daher eine weitere Ebene künstlerischen Schaffens. Eine universelle Sprache gefunden zu haben ist bereits Kultur.
Beispiel: Kinder sind keine Form, sie sind Teil einer Geschichte. In ihnen kulminieren Menschen, Orte, Ereignisse, fröhliche oder traurige – je nachdem ob diese Ereignisse fröhlich oder traurig gewesen waren. Kinder können also als Teil eines wie auch immer gearteten Inhalts betrachtet werden.
Köpfe und Schädel sind Formen. In ihnen versucht die Natur, der Frage Wie? beizukommen, ohne sie laut aussprechen zu müssen. Genauso ist ein Kleid eine Form, eine Orgelpfeife, die Zahl 6 oder ein Schrei, ein Schrei, ein Schrei.
Die Form hält den Inhalt zusammen wie eine eigens für ihn gezimmerte Passform. Der Künstler ist ein Zimmerer und Sammler. Alle Geschichten werden gesammelt, reiben an einander, werden abgewogen – das Kunstwerk lernt von sich selbst über sich selbst. Das Kunstwerk ist schlauer als jener, der die Passform zimmert. Zerbricht die Form, zerbrechen auch unsere Geschichten. Kultur – nirgendwo.
3.
Als wir dort eintrafen, sammelten die Leute in den Ruinen Trümmer, die sie je nach Art auf kleine Haufen verteilten: Fensterrahmen hier, wiederverwendbare Ziegel dort, Türen an einer anderen Stelle, Schlösser und sonstigen Metallschrott auf wieder einen anderen Haufen. Ich spürte, dass in Wolf etwas still zusammenbrach, wie Häuser gelegentlich innen zusammenstürzen, auch wenn die Außenmauern stehenbleiben.
Das haben wir nach dem Krieg gemacht. In Deutschland, meinte er.
Das haben auch wir nach dem Krieg gemacht. In den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, meine ich. Und im Buch Schwarz.Licht von P.R.M. und W.B. lese ich, die Geschichte, obgleich sie sich nicht wiederhole, beweise wenig Einfallsreichtum (wenn es darum geht, ihre eigenen Kinder zu verspeisen). Ein Kreislauf, den es zu durchbrechen gilt, verdient seinen Namen nicht, wiewohl die Geraden, die aus einem durchbrochenen Kreis entsteht, sich zu drehen und winden versteht, bis sie den eigenen Schwanz wiederfindet (oder war es der Kopf gewesen, der die ganze Zeit über einen anderen Kopf suchte?). Den Kreislauf zu durchbrechen heißt, den Menschen ein Heim zuzugestehen – Mauern, die ein Dach halten über atmenden Körpern; Fenster, hinter denen sich ein Garten befindet, oder eine Ausfallstraße, ein weiteres Haus, Nachbarn; Metallschrott, der, zusammengesetzt, ein funktionierendes Ganzes ergibt. Diese einfache Gleichung wird der selbstverschuldeten Einfallslosigkeit geopfert: Ich zerstöre lieber, als dass ich meine Gleichungen lerne. Auf Trümmern das altbekannte Lied zu spielen, das nur jenen Leuten als Arie in den Ohren tönt, die ihre eigenen Söhne nicht in den Krieg ziehen lassen, grenzt an ein unerträgliches Schicksal (und ich glaube nicht an das Schicksal!).
Im Jahr 2018 besuchte ich im Naturhistorischen Museum in Wien eine Ausstellung zu Krieg und historischen Massenverbrechen. Ausgestellt war unter anderem das größte in Deutschland gefundene Massengrab aus dem Dreißigjährigen Krieg: Mithilfe eines neuartigen Verfahrens war es den Forschern gelungen, das Grab auszuheben und en bloc mit Acryl und Epoxidharz zu konservieren. Die um die Körper liegende Erde war Teil des Ausstellungsstückes, das, rechteckig, eine Spannbreite von ungefähr zehn Metern maß. Darin waren mehrere Dutzend Skelette ausgestellt: mit auffälligen Schusswunden bestückte Tote, die der Zufall eines Massakers zu einer Gemeinschaft fügte – zu einem makabren faszinierenden archäologischen Kunstwerk.
Sind die Knochen eines Menschen, wenn er denn einem Krieg zum Opfer fällt, auch dessen Trümmer, die, Jahrzehnte, -hunderte, -tausende später, gefunden, freigelegt und wieder neu zusammengesetzt, ein Kunstwerk ergeben, ein neues Haus – ein funktionierendes Ganzes?
Der Krieg ist die Gleichung, die nicht aufgeht.
Text: © Marko Dinić
Die gesamte Veranstaltung »Literatur und Angst«, die am 07.12.2021 im Rahmen der Reihe StreitBar in der Alten Schmiede stattgefunden hat, können Sie hier nachsehen: