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Eva Schmidt: »Sprache darf nicht zum Selbstzweck werden«

Blog, 24. September 2021
Eva Schmidt im Gespräch über ihr neues Buch Die Welt gegenüber.
 
Die für 27.9. geplante Lesung in der Alten Schmiede musste Eva Schmidt leider kurzfristig absagen. Anstelle des entfallenen Publikumsgesprächs hat Johannes Tröndle, der den Abend moderiert hätte, mit der Autorin per E-Mail ein Gespräch geführt – über virtuelle Reisen, visuelle Inspirationsquellen, Sprachskepsis, Verhaltensforschung, die Einsamkeit ihrer Figuren und die »Sucht, zu beobachten«.

Johannes Tröndle: Sie haben mit Ein langes Jahr (2016) einen Roman vorgelegt, der im Milieu einer österreichischen Kleinstadt angesiedelt ist und viele verschiedene Geschichten und Einzelperspektiven mosaikartig zusammenfügt. Der Nachfolgeroman Die untalentierte Lügnerin (2019) behandelte demgegenüber nur eine einzige Geschichte, wobei die kleinstädtische Umgebung dieselbe geblieben ist – als hätten Sie, so mein Eindruck, eine der vielen Figuren des Vorgängerwerks herausgegriffen und sozusagen »mit der Lupe« betrachtet. Ihr neues Buch rollt nun wiederum eine Vielzahl von Geschichten aus – und im Vergleich zu den beiden Romanen fällt auf, dass die meisten Erzählungen »unterwegs« spielen. War dies eine bewusste Entscheidung: im Schreiben wieder einmal »das Weite zu suchen«?

Eva Schmidt: Vielleicht hat die Sehnsucht »das Weite zu suchen« in einigen meiner Erzählungen tatsächlich eine Rolle gespielt. Nachdem ich selbst in den vergangenen Jahren keine realen Reisen mehr unternehmen konnte, hat mich das Reisen im Kopf (mit Hilfe von Google) zunehmend fasziniert. Es ist nicht so anstrengend, und Orte, Landschaften, Gegenden werden auf diese Weise (wie auch das den Erzählungen innewohnende Geschehen) zu einer Fiktion, in der alles erlaubt ist und alles Unliebsame weggelassen werden kann. Nur in den beiden älteren Erzählungen Die Nacht und Die Esel von Riparbella spielt die tatsächliche geografische Kenntnis eine Rolle, in Skagen hingegen (Vielleicht nach Skagen) war ich nie, habe aber dennoch das Gefühl, dort gewesen zu sein. In den Geschichten, in denen die Stadt, in der ich lebe, eine Rolle spielt, nehme ich mir allerdings auch immer die Freiheit, reale Schauplätze zu verwandeln. Ich finde es spannend, über Bekanntes zu schreiben, dabei aber jeweils Neues zu entdecken. Es entsteht dabei, einschließlich der Menschen, die sich darin bewegen, ein eigener Kosmos, klein wie eine Briefmarke, aber unerschöpflich als Grundlage für eigene Interpretationen.

JT: Riparbella und Skagen, also Orte in Italien und Dänemark, haben Sie als Schauplätze Ihrer Erzählungen gerade genannt, in England und den USA spielen zwei weitere Geschichten. Noch häufiger aber bleiben die Orte namenlos – und fast immer sind es abgelegene Orte, Orte an der Peripherie, Orte, die nur vorübergehend bewohnt werden: Hotelzimmer, ein gemietetes Landhaus, ein Schutzhaus in den Bergen, Campingplätze. Leerstehende oder heimlich bewohnte Häuser. Oder man »bewohnt« ein Tankstellencafé und schläft im eigenen Auto. Was sind das für Orte – welche Bedeutung haben sie für Sie und was macht ihre Faszination aus?

ES: Zu meiner Erzählung Die Störung, die ebenso wie Sommerregen nach einem Bild des amerikanischen Fotografen Gregory Crewdson entstanden ist, habe ich, ebenfalls im Internet, den Ort Fertile in Minnesota (USA) gefunden. Aufgrund der Eindrücklichkeit der Fotografie musste es ein Schauplatz im amerikanischen Norden sein, deshalb konnte ich den Ort auch nicht nach Europa übersiedeln. Zu den Schauplätzen an sich eine mögliche Erklärung: Ich suche mir am liebsten Orte aus, die ich selbst mit meinen Personen (Figuren) besiedeln kann. Sie müssen einer Atmosphäre entsprechen, die der Sehnsucht der Figuren nach Nähe und Gemeinsamkeit genauso entspricht wie dem Eingeständnis und gleichzeitigem Unvermögen, anderen so nah und vertraut sein zu können wie sich selbst. Die Einsamkeit mancher Figuren besteht ja nicht nur in ihrem realen Alleinsein, sondern in erster Linie in der Unmöglichkeit, die Grenzen des eigenen Ichs überschreiten zu können und in diesem gefangen zu sein; vielleicht auch dem Wunsch, ihm entschwinden zu können, wenn das eigene Leben und die eigene Persönlichkeit zur Last werden.

JT: Zu den Fotografien und den visuellen Referenzen möchte ich gegen Ende unseres Gesprächs nochmals zurückkommen. Aber bleiben wir gleich bei den Figuren: Verglichen mit Ihren Romanen, die teils ganz ohne eigentliche Handlung ausgekommen waren, steckt in Ihren neuen Erzählungen sehr viel mehr erzählerische Dramatik. Anstelle von Momentaufnahmen aus dem Alltagsleben sehen wir Figuren durchwegs in Ausnahmesituationen. Viele Texte haben dabei zu Beginn etwas Unheimliches oder Bedrohliches: Eine Frau, allein in einem Landhaus, sieht durch das Fenster eine Männergruppe auf sie zukommen; ein kleiner Bub ist mit einem Mann in den Bergen unterwegs – wir wissen nicht, wer dieser Mann ist und was er mit ihm vorhat; eine herumstreunende Jugendliche lässt sich von einem älteren, etwas schmuddelig wirkenden Mann an der Tankstelle aufgabeln. Das Spannende an den Erzählungen ist aber, dass die Atmosphäre jederzeit kippen kann. Im letzteren Fall zum Beispiel erscheint uns der Mann im Lauf der Erzählung immer  »harmloser«  , während umgekehrt das Mädchen uns immer unheimlicher wird. Man weiß nie genau, wo man an den Figuren dran ist. Wir erfahren immer nur so viel über sie, dass sie uns noch fremd bleiben

ES: Da ich meinen Figuren möglichst freien Lauf lasse, sind auch für mich die Wendungen und Entwicklungen in einer Erzählung nicht vorhersehbar. Das ist einerseits das Spannende am Schreiben, andererseits auch das Beängstigende, weil ich nie wirklich weiß, wie es weitergeht. Meine Figuren kommen mir im Lauf des Schreibens immer näher, ich versuche sie zu verstehen, entfernen sie sich oder verblassen gar, bedeutet das meistens das Scheitern eines Textes. Als der alte Mann mit dem Jungen auf die Alpe unterwegs war, habe ich ihm noch nicht wirklich vertraut, erst als sich herausstellte, dass er die Mutter und den Jungen schon lange beobachtet, wusste ich halbwegs, wie sich die Geschichte entwickeln würde. Bei Sonja in Der Mann von der Tankstelle stellte sich schon früher heraus, dass sie sich zu wehren wusste und nicht immer die besten Absichten hatte. In dieser Erzählung habe ich aber sowohl Sonja, als auch Gregor verstanden, aber für mich besteht auch das Gebot, den Figuren, egal wie sie handeln, ihre Würde oder zumindest etwas davon übrig zu lassen, nicht zu moralisieren und vor allem keine eigenen Ansichten, Meinungen, Erklärungen in die Texte einfließen zu lassen.

JT: Die zwölf Erzählungen des Bandes sind zunächst ganz unabhängig voneinander lesbar. Die Geschichten nehmen nicht direkt aufeinander Bezug. Aber es gibt gemeinsame Motive – etwa das Motiv des (oft heimlichen) Beobachtens, das in allen Ihren Büchern eine Rolle spielt. Auch Kinder bzw. Mutter-Tochter-Beziehungen tauchen immer wieder auf. Gelegentlich hat man fast den Eindruck, als Leser bewusst auf eine falsche Fährte gesetzt, auf einen irreführenden Zusammenhang verwiesen zu werden: wenn etwa einmal von »Charlie« und im folgenden Text von »Charly« die Rede ist, oder wenn – mittels ähnlicher Schauplätze – Schluss und Beginn der Erzählungen überblendet werden. Wie sehen Sie Ihre Erzählungen im Zusammenhang? Gibt es überhaupt einen? Sind das Überlegungen, die für Sie im Schreiben und Zusammenstellen eines Erzählbands eine Rolle spielen?

ES: Der Zusammenhang besteht eigentlich nur darin, dass alle Erzählungen bis auf Die Nacht und Die Esel von Riparbella in zeitlich dichter Abfolge entstanden sind. Die beiden älteren Geschichten waren sozusagen als Klammer zu den neuen dazwischen gedacht. Den Leser bewusst auf eine falsche Fährte zu setzen war nie eine Absicht. Kinder bzw. Mutter-Tochter-Beziehungen werden in meinen Texten wohl immer wieder auftauchen, weil mich familiäre Zusammenhänge als Ursache und Quelle späterer Lebenswege grundsätzlich interessieren. Dass das Beobachten eine große Rolle spielt, hängt damit zusammen, dass für mich selbst das Beobachten ein sehr wichtiges und aufschlussreiches Instrument für das Schreiben ist, manchmal geradezu eine Sucht. Ich sehe es als eine Art Verhaltensforschung und könnte mir gut vorstellen, einen solchen Beruf (Verhaltensbiologie z.B.) auszuüben. Vermutlich wäre dies einfacher als Schreiben, weil strukturierter und mit weniger Zweifeln und Spannungszuständen verbunden.

JT: Weil Sie vorhin die Fotos erwähnt hatten: Auf dem Buchcover findet sich ein Foto des norwegischen Fotografen Ole Marius Joergensen – ein Bild wie aus einem Film von Alfred Hitchcock oder David Lynch. Wenn man auf Googles Bildersuche nach weiteren Arbeiten des Künstlers sucht, stößt man auf eine Bildwelt, die jener in ihren Texten sehr ähnlich ist. Waren diese Fotos Inspirationsquelle für das Schreiben?

ES: Nein, die Fotos von Ole Marius Joergensen habe ich erst entdeckt, als ich mich auf die Suche nach einem Coverbild machte, der Verlag hat von Herrn Joergensen auch gleich die Rechte bekommen und ich finde, es passt sehr gut zu meinem Erzählband, dass auf der Vorderseite kein Bild ist, das gleich ins Auge springt: Man muss das Buch umdrehen, um die Szene zu sehen. Für mich steht diese Anordnung auch ein bisschen dafür, dass sich zwischen den Wörtern und Sätzen auch einiges an Dahinter verbirgt.

JT: Ein gemeinsamer (für Joergensen und Sie) Bezugspunkt ist jedenfalls der Maler Edward Hopper, dessen von Kühle und Einsamkeit geprägte Bilder immer wieder mit Ihren Texten in Verbindung gebracht wurden – angestoßen auch von Ihnen selbst bzw. Ihrem allerersten Buch, in dem ja einige der Erzählungen nach Hopper-Bildern betitelt waren. Apropos: Mit Ihrem neuen Buch schließt sich ja auch ein Kreis, denn Ihr Debüt Ein Vergleich mit dem Leben von 1985 war ebenfalls ein (und Ihr bis dato einziger) Erzählband. Ich finde den Vergleich zu diesem ganz frühen Buch sehr reizvoll, denn inhaltlich-thematisch gibt es unverkennbar Gemeinsamkeiten, d.h. Kontinuitäten über all die Jahre hinweg; und gleichzeitig waren diese ersten Texte spröder, abstrakter und teils auch sehr fragmentarisch angelegt. Obwohl oder gerade weil hier kaum Namen, kaum »Konkretes« genannt wurde, hatten diese Erzählungen gleichzeitig etwas sehr Poetisches. Wie sehen denn Sie selbst – 35 Jahre später – Ihre schriftstellerischen Anfänge? Und sehen Sie Anknüpfungspunkte zu Ihren Texten aus jüngerer und jüngster Zeit?  

ES: Meine früheren Bücher habe ich zwar nie mehr gelesen, aber in der Erinnerung bleiben sie doch irgendwie gespeichert. Mein heutiges Schreiben unterscheidet sich vom früheren insofern, als ich der Sprache gegenüber immer skeptischer geworden bin. Ich streiche oft Sätze, Passagen, die mir zu poetisch oder bedeutungsvoll erscheinen. Vor kurzem hörte ich eine Schriftstellerin sagen, welches Glück sie empfindet, wenn ihr ein Satz besonders gut gelungen ist. Mir geht es mehr um Stimmigkeit, Genauigkeit und Klarheit, ich mag auch keine Bücher lesen, in denen eine gute Formulierung die andere übertrifft. Sprache darf nicht zum Selbstzweck werden. Insofern bin ich einfach viel empfindlicher und wohl auch strenger mit mir selbst geworden, und natürlich unterscheidet sich mein heutiges Schreiben vom früheren auch durch die lange Lebenserfahrung. Anknüpfungspunkte, weder mit früheren noch mit Arbeiten aus jüngerer Zeit, suche ich nicht. Ich möchte im Gegenteil mit jedem Neuanfang etwas ganz anderes beginnen, auch wenn ich im Laufe einer Erzählung dann merke, dass es doch immer wieder ähnliche Inhalte sind, die einfließen und mich bewegen. Nachdem ich die Erzählungen von Die Welt gegenüber fertiggestellt hatte, habe ich monatelang nicht geschrieben. Als sich dann aber die Bilder für ein Projekt langsam verdichteten, musste ich immer wieder neu anfangen, bis sich nach vielen gescheiterten Versuchen das Gefühl einstellte, einen Anfang und den richtigen sprachlichen Zugang gefunden zu haben.


Eva Schmidt, *1952 in Lustenau/Vorarlberg, lebt als Autorin in Bregenz. 1985 Erzähldebüt Ein Vergleich mit dem Leben. Zuletzt erschienen die Romane Ein langes Jahr (2016) und Die untalentierte Lügnerin (2019).