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Michael Hammerschmid über Friederike Mayröcker

Blog, 7. Dezember 2020
Friederike Mayröcker musste leider ihre Lesung in der Alten Schmiede vom 27.10.2020 absagen. Michael Hammerschmid, der Moderator des Abends, hat stattdessen einen Text über da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete für den Blog verfasst.

Das ganze Buch besteht aus solchen Textteilen oder Einträgen, die sich in vier Einrückungsgraden und unterschiedlicher Reihenfolge abwechseln. Im ganzen Buch gruppieren sich diese Einträge zu so etwas wie Tableaus. Insgesamt sind es rund 120, und sie tragen meist am Ende oder im letzten oft ganz nach rechts und dadurch gedichtartigen Eintrag, ein Datum. Sodass das Buch etwas von einer Mitschrift, Zeit-Schrift, Lebens-Schrift annimmt. Was es vor allem mit den letzten vier Büchern Friederike Mayröckers verbindet: zunächst mit Pathos und Schwalbe (2018), aber auch mit den schon grafisch vom Suhrkamp-Verlag sowie durch die französischen Kurztitel zu einer Art Trilogie zusammengefassten Bänden études (2013), cahier (2014) und fleurs (2016). Sie alle bestehen aus solchen wechselnden Einträgen mit Einrückungen und Datierungen, die zusammengenommen einen großen Sprachkosmos aus Textpassagen der letzten ca. zehn Jahre ergeben; beginnend mit études, das am 22.12.10 einsetzt, bis zum rund zwei Jahre umfassenden Band da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete, der mit einem Eintrag vom 3.11.19 endet.

Die oben zitierte Passage des Textbeginns stimmt den elegischen Grundton des Buches an, das von Begeisterungen durchsetzt ist, und einer musikalischen Variation über die Schwalbenschaft für Alfred K. gleicht, eine durch Wiederholungen und Brüche gekennzeichnete Passage, die dem erst diesen Mai verstorbenen Dichterfreund und manuskripte-Herausgeber Alfred Kolleritsch gewidmet ist, der jedoch hier zur Chiffre verändert und gleichsam abstrahiert, auftritt. Friederike Mayröcker nimmt auf unterschiedliche Weise unzählige Begegnungen, Erinnerungen, Momente, Erlebnisse mit Literatur, Menschen, Kunst und Alltag in ihren Sprachfluss auf und speist diese in ihre Schrift ein. Es ist zweifellos der Ton hoher Poesie, der hier angeschlagen wird, doch ist diese Höhe nur möglich, weil sie sich auch dem scheinbar banalsten Detail nicht versperrt. Existenziell grundiert bleibt die Höhe oder besser wird die Höhe abgründig und tiefgründig mehrdeutig vielschichtig.

Wobei die Kunst dieses Buches vor allem darin besteht, die vielen Partikel nicht nur ins Spiel zu bringen, gleichsam magnetisch anzuziehen und verwandelnd wieder abzugeben, sondern sie auch in Balance zu bringen. Die Kräfte, die in dem Buch wirken, sind einander dabei aufs radikalste entgegengesetzt. Dies lässt sich u.a. daran ersehen, wie die Einzelereignisse, die mikroskopischen Sprach- und Formereignisse größtmögliche Autonomie für sich behaupten (können). Man merkt das etwa daran, dass man gleichsam an jeder Stelle in das Werk einsteigen kann, ohne dass dies die Lektüre des ganzen Kontextes notwendigerweise nach sich zieht. Man kann dieses Buch, wie die meisten anderen Friederike Mayröckers, also durchaus punktuell, passagenhaft, ja räuberisch lesen, ohne ihm Unrecht zu tun. Und dennoch ist spürbar, wie sehr sich jede Stelle mit anderen Stellen assoziiert, man merkt, dass man sich in einem Œuvre, einem großen Zusammenhang bewegt und an ihm teilhat, und dass diese Ästhetik dieses poiein (= machen), dieses Schreiben, aus einer rund 70jährigen, kontinuierlichen Spracharbeit entwickelt hat, die sich stets unerhört offen und neugierig gegenüber anderen Einflüssen, Künsten und Werken einerseits sowie gegenüber dem eigenen Alltag und Körper und dem eigenen Medium, der Sprache, andererseits verhalten hat.

Fast wie eine Widmung an all die vielen genannten Menschen und Künstlerinnen und Künstler macht sich da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete aus. Wie ein Subbass klingen die Arbeiten der genannten Künstlerinnen und Künstler mit, fast wie eine sehr persönliche Kunst-Geschichte schwingen sie mit. Fast wie über deren Werke improvisiert, liest sich das Buch. Auf jeden Fall oszillieren die Worte und Wahrnehmungen mit diesen aufgerufenen, angerufenen, in Dialog gebrachten Werken. Und es ist charakteristisch für Friederike Mayröckers Schreiben, dass es fortwährend in Dialog steht, und das Ich des Buches wird eben gerade dadurch gekennzeichnet, dass es den Dialog und das Dialogische sucht, wodurch dieses Ich mit allen diesen Welten, Werken, Gegenwarten und Vergangenheiten (wie) in ständigem Austausch steht. Nicht zuletzt das macht Friederike Mayröckers Schreiben so  zugänglich, einladend, gerade dadurch entsteht die Sogwirkung, seine Magie als zauberhafte Anziehungskraft verstanden. Das Fantastische daran, dass das Ich – so persönlich, innig und gegenwärtig es uns entgegentritt und wir ihm gleichsam von Aufmerksamkeit zu Aufmerksamkeit, von Wahrnehmung zu Wahrnehmung folgen – in keiner Weise monomanisch oder egozentrisch erscheint. Es ist ja in Austausch, in Abgleich, in Dialog mit anderen und mit sich selbst, und es ist vor allem ein Sprach-Ich. Eines, das erst in der Art der Wahrnehmung zu seiner Gestalt findet, oder besser, seine Gestalt sucht. So wie die Bücher von Friederike Mayröcker  ihre Gestalt, Form und Formung fortwährend suchen. Es sind Suchorgane, Suchbücher und das Ich verändert sich in ihnen permanent bzw. nimmt die jeweilige Sprachgestalt(ung) an, die es in Gang setzt. Auf diese Weise wird vieles ausgehebelt, radikal unterwandert, was in zahlreichen Werken der Erzählliteratur als unhinterfragter Konsens gilt. Friederike Mayröcker entfaltet im Gegensatz dazu eine unkonventionelle Literatur, die das Narrative zwar sehr wohl kennt und verwendet, das Buch steckt voller kleiner Erzählungen, nicht zuletzt Erinnerungen an die eigene Kindheit und an Mutter und Vater, die sich aber von der bloßen Erzählung immer auch schon emanzipiert und ganz auf leuchtende Sprachereignisse setzt, aufs Detail, könnte man auch sagen, sowie auf den subkutanen Zusammenhang, der nicht zuletzt durch feine Variationen und Déjà-vu-effektartige Reminiszenzen zwischen all diesen scheinbaren Details erzeugt wird. Die Poetik von da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete ist so gesehen mikroskopisch und makroskopisch zugleich, (un)erzählerisch und gedicht(un)artig, oberflächendichterisch und untergrundsforscherisch. Und auch die einzelnen Einträge des Bandes sind sowohl autonom als auch in Beziehung zu den sie umgebenden lesbar, im Kontext und im Subtext, wörtlich und allegorisch, könnte man in Anspielung auf den vierfachen Schriftsinn alter (und nicht nur alter) Bibellektüre sagen.

da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete ist ein komponiertes Sammelsurium an Fundstücken, Sprachkunststücken, an Verdichtungen, Auftrennungen und Wieder-Zusammenfügungen, an Überraschungen, Bekenntnissen und Erforschungen. Und so schockierend wie der Punkt im Titel en eben anhebenden Satz schroff unterbricht und zu einem jähen Ende zwingt: da ich morgens und moosgrün., so unerwartet geht derselbe Satz weiter und setzt doch als ein unerwartet Neuer (Alter) ein: Ans Fenster trete. Und wenn das nicht für die Offenheit der Literatur der Friederike Mayröcker und die unerhörten Möglichkeiten der Literatur insgesamt stehen und als große Ermutigung verstanden werden kann?!

Das ganze Buch lässt sich wie in Schichten komponiert beschreiben, es bringt eine Art unbewusste Sprache zum Vorschein, in der die Signifikanten und Signifikate poetisch zu schwirren beginnen. Es handelt sich um ein Sprach-Kunst-Werk, indem alles Sprache wird, was berührt wurde und wird. Man kann es sich vielleicht wie ein Organ vorstellen, das einem erwächst, wenn man Friederike Mayröcker liest, ein Empfindungsorgan noch ungekannter Art. Im Innersten ist es darauf ausgerichtet zu überraschen, neue Spuren und Wege zu gehen und zu öffnen und zu verdichten, zu vervielschichtigen. Es gibt kaum eine Passage, in der sich vorhersehen lässt, wie die Sprachspur weiter verlaufen wird. Das Werk gleicht dabei auch einer Collage, einer Collage von Sprachsplittern, Partikeln, Sätzen, von grafischen und akustischen, von inhaltlichen und formalen Elementen. Öfter wurde schon die Wildheit der Mayröcker’schen Poesie hervorgehoben und es trifft zweifellos zu: Das Werk wildert, ist wild und unangepasst, reißt Bilder und Vorstellungen auf, aber Friederike Mayröcker verfugt diese auch neu, bringt sie zueinander in Beziehung. Vielleicht könnte man das Werk Friederike Mayröckers ganz gut als ästhetische Beziehungsarbeit zwischen einander Unbekanntem beschreiben. Und vielleicht ließe sich von Friederike Mayröcker ausgehend die Poesie insgesamt als so etwas wie eine ästhetische Beziehungsarbeit denken? Jedenfalls praktiziert ihre Poetik das In-Beziehung-Setzen auf unterschiedlichsten Ebenen. Nicht erst in diesem Werk, aber doch in diesem wieder und auf besonders intensive Weise, kommt es auch zum fortlaufenden An- und Aufrufen von Namen, wie oben am Beispiel Alfred K. zu sehen, die Seite für Seite vorkommen und zusammengedacht so etwas wie ein Fest der Namen und des Nennens ergeben, das natürlich auch ein Fest der Worte selbst ist:

lesen = der weisze Flieder = Ezra Pound,
abermals, ich liebe das Wort abermals ach
wie ich dieses Wort liebe oder das Wort an-
derswo wie ich das Wort anderswo liebe

heißt es einmal und es ist alles andere als die einzige Liebeserklärung an die Worte und die Sprache, die in diesem Buch vorkommt. Vielleicht ist dieser Zug in da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete noch einmal verstärkt, vielleicht tritt diese Erklärung poetisch-poetologisch in ihm noch einmal intensiver als früher hervor?

Friederike Mayröcker

Friederike Mayröcker

da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete
Bibliothek Suhrkamp 2020