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Realitäten des Realismus

Blog, 15. Februar 2022
Zwei Abende des vergangenen Literaturprogramms warfen einen Blick auf literarische Realismen, auf ihren Reichtum an Möglichkeiten und ihre (verborgenen) Traditionen. Die beiden Autoren Haydar Ergülen und Yalçın Armağan aus der Türkei und Florian Neuner und Helmut Neundlinger aus Österreich sprachen über Realismus-Konzeptionen in der türkischen Literatur und der österreichischen Avantgarde. Helmut Neundlingers Text über Alexander Kluge lesen Sie hier, die Texte der Kollegen erscheinen im März 2022 in einer Ausgabe des Hammer. Initiiert wurde das Projekt von Erhan Altan.

von Helmut Neundlinger

Alexander Kluges »Kommentare zum antagonistischen Realismus-Begriff«

Gibt es einen Realismus der Avantgarde? Für den Autor und Filmemacher Alexander Kluge stellt sich die Frage gar nicht: In einem für seine gesamte Arbeit zentralen Text aus dem Jahr 1975 bezeichnet er es als »schärfste Ideologie: dass die Realität sich auf ihren realistischen Charakter beruft«. Realität, so Kluge, sei immer schon »geschichtliche Fiktion«: »Den einzelnen trifft sie real, als Schicksal. Aber sie ist kein Schicksal, sondern gemacht durch die Arbeit von Generationen von Menschen, die eigentlich die ganze Zeit über etwas ganz anderes machen wollten.« Ein zentrales Merkmal für das Mitwirken an der Realität ist also die Unfreiwilligkeit, und das lässt sich auch auf Ernst Jandls frühe Erfahrungen in der NS-Zeit bzw. als Soldat der Wehrmacht beziehen. In solchen Prozessen erlebt der Einzelne die Realität, so Kluge, zugleich wirklich und unwirklich, weil er ihr unentrinnbar ausgeliefert ist, ohne sich jemals aktiv dafür entschieden zu haben. »Realität ist wirklich insofern, als sie Menschen real unterdrückt. Sie ist unwirklich insofern, als jede Unterdrückung die Kräfte lediglich verschiebt«, schreibt Kluge, und in diesem Sinne ist Jandls Spracharbeit an diesen Unterdrückungserfahrungen eine Art von Gegenmobilisierung.
»Das Motiv für Realismus ist nie Bestätigung der Wirklichkeit, sondern Protest«, so lautet einer der Kernsätze in Alexander Kluges Text, und daran anknüpfend listet er die Methoden bzw. Mittel auf, durch die sich ein realistischer Aufstand gegen die Wirklichkeit ausdrücken kann. An erster Stelle führt er die radikale Nachahmung« an, also eine Form des mimetischen Vermögens. »Imitation, Clownerie, Insistieren, Nachäffen nennt er als Beispiele für eine solche Strategie der Kenntlichmachung durch Überzeichnen bzw. Zuspitzen. An zweiter Stelle nennt er das »Ausweichen vor dem Druck der Realität«, etwa Traum, Negation, Erfindung, Utopie: alle zusammen Formen des Unwirklichen, die sich gleichwohl von (oftmals traumatischen) Wirklichkeitserfahrungen ableiten. Zentral in Kluges Assoziationen ist der Begriff des Motivs, der aus diesen Strategien der Verschiebung durchschimmert. So gesehen liegen im Traum oder in der Erfindung un- bzw. halbbewusste Formen des Protests. Direkter und unverstellter artikuliert sich der Protest in der dritten Form, dem Angriff. Aggressive Montage, Vernichtung des Gegenstandes, Klischierung des Gegners, aber auch Selbstzweifel lauten hier die Beispiele. Die Montage als künstlerisches Mittel verweist auf Verfahren, die in die Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts zurückreichen. Beispiele radikal politisierter Kunst finden sich u. a. in den Collagen des bildenden Künstlers John Heartfield oder in den Filmen von Sergej Eisenstein oder Dziga Vertov.
All diesen Beispielen wohnt Kluge zufolge derselbe Antagonismus inne wie der Realität. »Das, was das Realistische daran ist, der Antirealismus des Motivs (Protests, Widerstands), produziert das Unrealistische daran«, schreibt er und fordert etwas ein, das er als »Schlüssel« für eine reflektierte realistische Methode bezeichnet: das Unterscheidungsvermögen, das wiederum zum »Realismus des Motivs« zurückführt. Es gibt einen Satz aus Konrad Bayers Roman der sechste sinn (1964), der lautet: »wo leben und eigentum bedroht werden, hören alle unterscheidungen auf.« Im Kontext des Bayerschen Schreibverfahrens der »dichtungsmaschine« ist er nicht wörtlich im Sinne einer verifzierbaren Aussage zu nehmen, allerdings korrespondiert sein »Sinn« mit Alexander Kluges Reflexion über die Frage der realistischen Methode. Ohne sie zu konkret zu benennen, bringt Bayer mit diesem Satz die totalitäre Gewalt bzw. den Terror ins Spiel, eben jene zugleich präsente und unsichtbare Kraft, an der sich die im vorigen Beitrag erwähnten Texte von Ernst Jandl, Heimrad Bäcker und Ilse Aichinger abarbeiten.
Alexander Kluge entwickelt das Unterscheidungsvermögen methodisch-literarisch in einem seiner umfangreichsten Textprojekte, der Schlachtbeschreibung (1964), das den Untertitel »Organisatorischer Aufbau eines Unglücks« trägt. Thema des Textes ist der Russlandfeldzug der Deutschen Wehrmacht, und Kluge wendet in der Darstellung dieses mörderischen Unternehmens ein ähnliches Verfahren wie Heimrad Bäcker an, indem er eine Montage aus Quellentexten der militärischen Planung und Umsetzung des Überfalls komponiert und mit Kommentaren versieht. In der Präambel formuliert er ein weiteres Mal sein Programm eines »antirealistischen Realismus«: »Den folgenden Text muß der Leser gegen den Strich lesen, in einem ganz unpraktischen, INAKTUELLEN, von der Gegenwart der Berliner Republik abgewendeten ZÄHEN Interesse, so ANTIREALISTISCH wie die Wünsche und die Gewißheit, daß Realitäten, die Stalingrad hervorbringen, böse Fiktionen sind. Daß ich auf Stalingrad beharre, hat den Protestgrund, daß Erinnerungslosigkeit irreal ist.« Von diesem Bekenntnis aus lässt sich eine Brücke schlagen zu Konrad Bayers Satz, der eine Art von abstrakter Essenz dieser konkreten Position darstellt.
Daraus ergeben sich keine linearen Erzählungen mehr. Paradigmatisch entwickelt Kluge in der Folge gemeinsam mit dem Politologen Oskar Negt ein sammelnd-essayistisches Verfahren, das in das Mammutwerk Geschichte und Eigensinn mündet: eine groß angelegte Collage aus Zitaten, Bildern, Bilddeutungen und Kommentaren, die den Anspruch auf eine abgerundete, in sich geschlossene Darstellung komplett aus den Angeln hebt. »Das alles hat den Charakter einer Baustelle«, schreibt Kluge in seinen Kommentaren zum antagonistischen Realismus-Begriff und formuliert damit recht anschaulich das »Neue« an diesem Ansatz. Und zum Abschluss entwirft auch er sein »Programm einer kommenden Literatur«, indem er auf die großen Innovatoren der Romanform zu Beginn des 20. Jahrhunderts verweist: »Das Finden von Situationen ist eine außerordentlich umfassende und radikale Konstruktionsarbeit. Man bekommt einen Begriff davon, wenn man verfolgt, wie James Joyce in seinem Roman Ulysses mehr als tausend Seiten schreibt, um 24 Stunden des Durchschnittsmenschen Leopold Bloom zu konkretisieren. Proust: Erinnerungsarbeit, siebenbändig. (…) Reduktion und Konstruktion, beides Herstellungsweisen von ›Szenen‹, sind mögliche artistische Ausdrucksformen, sie sind aber auch Real-Formen, mit denen die Geschichte Menschen für ihren Real-Roman zurechtschneidet. «

Text: © Helmut Neundlinger


Die gesamte Veranstaltung »Traditionen des Realismus« mit Haydar Ergülen, Helmut Neundlinger und Erhan Altan finden Sie auf dem Youtube Kanal der Alten Schmiede.