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Schreiben, zeichnen, Leben retten: Willy Puchner

Blog, 8. November 2021

Wieso schreiben, wieso zeichnen, wann, wo, wozu? Und wie wird daraus ein Leben? (Teresa Präauer). Im Mai lud Teresa Präauer den Zeichner und Autor Willy Puchner in die Alten Schmiede zu einem Gespräch über das Anfangen und Weiterverfolgen eines künstlerischen Wegs, über Inspiration und Arbeitsmaterial ein. Willy Puchner verfasste für diesen Abend einen Text, der hier, ergänzt um bildnerische Arbeiten, nachzulesen ist.

Von Willy Puchner

Zeitlebens bin ich unterwegs, Protagonist meiner Lebensreise, Hauptdarsteller einer Gesellschaft, die schon vor langer Zeit mobil geworden ist. Wenn ich verreise, habe ich meine Materialbücher, den Zeichenstift und meine Kamera immer dabei. Ich liebe es, Bilder wahrzunehmen und noch mehr liebe ich es, sie festzuhalten.
Ich erinnere mich an mein indisches Material- und Reisebuch, in dem ich notierte: In Indien hatte mein Schreiben, Zeichnen, Kritzeln und Fotografieren einen heilenden Zweck. Es diente nicht nur dazu, Land und Menschen zu verstehen, sondern auch dazu, das Fremde, das mir begegnete, ein wenig zu lindern. Wenn ich etwas aufschrieb, zeichnete oder fotografierte, begann ich es zu verarbeiten.

Meine  Reise beginnt schon lange vor dem tatsächlichen Aufbruch, ich habe das Gefühl, dass ich auf einer permanenten Reise bin. Ausgelöst wird der Wunsch nach draußen von einer enormen Sehnsucht, vielleicht auch Seh-Sucht, von Phantasien, Visionen, aber auch Hirngespinsten.
Gerne wäre ich frei wie ein Vogel sein, doch ich bin gefangen in meinen Wünschen und Luftschlössern. So mache ich mich auf, um einen Teil meiner Bilder zu realisieren. Unterwegs sein bedeutet für mich auch, meinen eigenen Weg zu gehen. Nichts huscht an mir vorbei, dazu ist meine Bewegung zu langsam. Ich ziehe los, rieche die Luft, sehe den Himmel, spüre mich selbst, gehe auf den Wegen der Ausflügler, Wanderer, Touristen oder in eine andere Welt.
Reisen wird ein Hinsehen mit Zeit. Vieles bleibt mir fremd, vieles auch vertraut. Manches löst Erinnerungen aus.
Gegenwart und Erinnerung. Beides erlebe ich beim Gehen, dazu das Gleichmaß der Schritte, den Rhythmus, den ich mir schaffe. Unterwegs sein heißt aber auch genießen, schauen, hinhören, sich amüsieren und gelegentlich ein wenig innehalten.



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Die Farben der Vögel, Willy Puchner

In meinen Material- und Notizbüchern wird die Welt zu einer Sammlung persönlicher Fundstücke, einer Art Patchwork, das sich in Texten, Zitaten, Bildern darstellt.
Meine Materialbücher sind meine Wohnung auf Reisen. Jede Seite oder Doppelseite ist ein Zimmer, ein Raum oder ein Bild. Hunderte Fäden, die durch die Luft schwirren, werden darin festgehalten, fixiert, verknüpft. Die Materialbücher spiegeln auch mein Wesen als Buchhalter. Indem ich die Welt sammle, ordne, berechne und aufzeichne, orientiere ich mich. Ich versuche mich jeden Tag zurechtzufinden, meinen augenblicklichen Standort zu bestimmen. Ständig ändern sich meine Koordinaten. So dienen die Aufzeichnungen auch dazu, die Vielfalt der Empfindungen festzuhalten.
Und immer wieder lese ich im Buch der Unruhe bei Fernando Pessoa: »Vielleicht ist es mein Schicksal ewig ein Buchhalter sein zu müssen, und Dichtung und Literatur sind ein Schmetterling, der sich auf meinem Kopf niederlässt und mich umso lächerlicher erscheinen lässt, je größer seine Schönheit ist.«
Andererseits findet vieles von dem, das mir begegnet, findet auch keinen Niederschlag, hinterlässt keine Spuren. Zu schnell war das Gesehene, das Gefühlte vorüber. Was sich ins Gedächtnis oder vielleicht ins Materialbuch einschreibt, dient einem einzigen Grund: nach Hause zu kommen.
Mein Bedürfnis ist so stark, dass ich bis ans Ende der Welt reisen würde, um es zu befriedigen. Getrieben von einer Leidenschaft, folge ich meinem Hunger so lange, bis er gestillt ist: Ich will irgendwann nach Hause kommen.
Und war ich dann für Momente zu Hause angekommen, will ich wieder weg. Irgendwohin. Am liebsten in eine ausufernde Großstadt.

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Fotografie / Illustres Fernweh , Willy Puchner

New  York hat mir immer gefallen.
Ich notierte in mein Materialbuch:
Schon frühmorgens verließ ich das Hotel, den ganzen Tag lief ich in der Stadt herum. Ruhelos und süchtig nach Bildern. Was habe ich nur gesucht? Waren es Gegenstände, die mich berührten oder Menschen, die mir Geschichten erzählten? In der rechten Hand trug ich die Kamera verborgen, wie einen Bleistift, mit dem ich mir Notizen machte. Jedes Bild wurde zur Zeile, zum Satz oder zu einer Geschichte, die nicht enden wollte. Je mehr ich fotografierte, desto mehr Bilder wollte ich machen. Ich war wie in einem Rausch. Zur Ruhe kam ich erst, als ich einen Tag auf einem vom Rost zerfressenen Schiff verbrachte. Endlich spürte ich ein poröses Gegengewicht zum vitalen und hektischen Großstadtgetriebe. Versunken in gelben und rötlichbraunen Farben war ich für Augenblicke einem tröstlichen Untergang geweiht.
 In meinem Hotelzimmer hatte ich das Allerwichtigste auf meinem kleinen Tisch für meinen Briefverkehr vorbereitet, das, was ich den Kritzelbedarf nenne: Zeichenpapier, Bleistifte, Wasserfarben, Pinseln, Buntstifte, Bleistiftspitzer, Radiergummi, Füllfedern, allerlei Briefmarken, Klebstoff, selbstgemachte Stempel, eine Lupe, Fundstücke, die ich von draußen mitgebracht hatte. Im Lauf der Jahre hat sich meine Korrespondenz verändert. Waren es anfangs kleine Grußpostkarten oder exklusiv gestaltete Briefmarken, wurden es immer längere Texte, eigentlich Briefe, die sich mit Zeichnungen und Fundstücken vermischten, sogenannte Bilderbriefe, wo eine Seite ein spezielles Text-Bild-Gefüge war.

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Geboren in New York, Willy Puchner

So saß ich jeden Tag lange an meinem Hoteltisch und stellte mir oft die Frage:
Wem  schreibe ich heute?
Ich habe von diesem und jenem zu berichten, will eine kurze Geschichte erzählen, aber auch sagen, dass ich dich einfach mag, schätze, liebe!
So wurde die Briefwelt Teil meines Alltags, wo immer ich auch bin, ob zu Hause oder irgendwo anders, täglich schreibe und zeichne ich und sende Botschaften an Freunde, Bekannte und manchmal auch an Wildfremde. Ich weiß mittlerweile, dass ich vielen Menschen damit eine große Freude gemacht habe. Ob ich damit ein Leben gerettet habe, glaube ich nicht, aber sicher den einen oder anderen Tag.


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Brief-Welt / Illustres Fernweh , Willy Puchner

Neu ist, dass ich seit mehr als einem Jahr zu nähen begonnen habe. Daran interessiert mich der fortlaufende Faden, das aus Fasern zusammengesetzte Gebilde, das ich mit dem Schreiben und Zeichnen verbinde. Da ich so gut wie nie das Gefühl habe, den Faden zu verlieren, hilft mir diese Aufgabe im Labyrinth meiner Lebensreise einen Weg zu gehen, der Struktur und Ordnung schafft. Auf eine gewisse Art habe ich auch das Gefühl, dass ich damit die unzähligen Fäden, die durch die Luft schwirren, zusammenbinde und gelegentlich verschnüre. Vielleicht ist es auch die Zeit, die ich in meinen Arbeiten und Poststücken speichere und verpacke, Zeit für scheinbar Unnützes, Sinnloses oder Überflüssiges. Und doch weiß ich, dass es das Kostbarste ist, das ich hier und jetzt in diesem Dasein habe:
Zeit! Ich wiederhole es noch einmal: Zeit!
Die  letzten Monate habe ich meine kleinen Reisen, bedingt durch Corona, auf die nahe Umgebung verlegt. In einem Rucksack habe ich das Notwendigste eingepackt, mein kleines mobiles Büro, meinen Kritzelbedarf, mein Materialbuch, ein wenig Proviant. Ich mache Rast, nachdem ich eine Zeit lang gegangen bin, überlege, wem ich heute unbedingt das eine oder andere erzählen möchte, versuche meine inneren und äußeren Bilder zu verbinden.
Ich gehe und gehe in mich und dabei erinnere ich mich an den Film »Forrest Gump«, in dem Forrest, nachdem er zu laufen begann und an einem Ozean  angekommen war, plötzlich stehen bleibt und den wunderbaren Satz sagt: »Wenn ich schon soweit gelaufen bin, kann ich umdrehen und noch ein Stück weiterlaufen...« und so beschließe ich zur Bäckerin weiterzugehen, um mir frische Langsemmeln zu holen. Plötzlich spüre ich, dass meine Schritte und meine Gedanken eins werden und ich das Gefühl habe, dass ich weitergehen und weitergehen könnte. In der Bäckerei lacht aus der Vitrine eine üppige Kardinalschnitte, und weil sie mich so stark anlächelt, nehme ich sie einfach mit. Nachdem ich nach fast zweieinhalb Stunden wieder in mein Bauernhaus komme, verschwitzt, hungrig und beschwingt, freue ich mich, dass all die Zeichen- und Schreibmaterialien bereits auf meinem Schreibtisch liegen, und ich beginne zu zeichnen und zu schreiben, während mein kleiner Kater Tiger mich besucht und herzergreifend miaut.
Oh ja, auch er hat Hunger.

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Die Farben des Tigers oder eine Reise ums Haus, Willy Puchner

Willy Puchner, *1952 in Mistelbach/NÖ. Seit 1980 mehrfach ausgezeichnete Bücher, u.a. Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis für Willy Puchners Welt der Farben (2011), zuletzt Mein Kater Tiger (2020). Regelmäßige Beiträge in Zeitungen und Zeitschriften (u.a. Wiener Zeitung, »Puchners Farbenlehre« in der FAZ); Ausstellungen weltweit.

Text & Bilder © Willy Puchner