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StreitBar: Literatur & Resilienz 2/3

Blog, 2. April 2025
Die Reihe StreitBar bringt regelmäßig Autor*innen zusammen, um über Aspekte ihres literarischen Schaffens, die in ihrem Selbstverständnis und ihrer Arbeit eine wichtige Rolle einnehmen, zu sprechen. Unter dem Themenschwerpunkt »Literatur & Resilienz« kam Bettina Balàka am 2.12. mit Helwig Brunner in der Alten Schmiede sowie mit Alida Bremer am 28.11. in der Leselampe Salzburg ins Gespräch. Die im Rahmen der Veranstaltungsreihe konzipierten Texte können Sie nun im Blog nachlesen.


Auf dem Weg nach Ithaka
Von Alida Bremer


Wenn du deine Reise nach Ithaka antrittst,
So hoffe, daß der Weg lang sei,
Reich an Entdeckungen und Erlebnissen.

(Konstantinos Kavafis: Ithaka)


1.
Meine Mutter wurde im April 1936 in einem Fischerdorf an der kroatischen Küste geboren. Sie war fünf, als italienische Faschisten in ihren schwarzen Hemden zwischen den Oliven- und Kirschbäumen, Feigen und Oleandern auftauchten, im Hafen mehrere Jugendliche erschossen, die von irgendjemandem aus Dorf als Mitglieder der Kommunistischen Partei denunziert worden waren, sich mit ihren bestiefelten Füßen auf den toten Körpern fotografieren ließen und das Italienische zur offiziellen Sprache in Dalmatien, das ab sofort Italien sein sollte, erklärten. Im September 1943, als Italien kapitulierte, war meine Mama sieben. Ihre Großmutter und ihre Cousine waren in Fraschette di Alatri, einem Mussolini-Lager in der Nähe von Rom, ihr Cousin, ihr Onkel und ihr Vater mit ihren Partisaneneinheiten irgendwo in den kroatischen Bergen. Da ihre Tante nicht verraten wollte, wo sie sich befinden, hatten die Italiener sie vor ihrem Abzug erschossen, und nun organisierten Titos Partisanen mit Hilfe der Briten die Evakuation der Familien von kroatischen Partisanen nach Ägypten, zuerst der Alten und der Kinder. Man wollte die Zivilisten aus dem Kampfgebiet fortbringen, da die Deutschen gemeinsam mit den kroatischen Ustascha die von den Italienern aufgegebene Küste besetzt hatten. Mit kleinen Fischerbooten voller Menschen manövrierten die Partisanen von einer Insel zu nächsten, von der Insel Vis wurde die Flucht mit einem kleinen Dampfer nach Bari in Italien fortgesetzt, dann vom Hafen Taranto nach Port El Said mit einem britischen Militärschiff, wobei es darauf ankam, den deutschen Flugzeugen und U-Booten zu entgehen. Von Port El Said ging es weiter auf Lastwagen in die Wüste des Sinais, in das Flüchtlingslager El Shatt. Als ihr Großvater und ihre beiden jüngeren Schwestern – sie waren fünf und drei – im Fischerboot lagen, bedeckt mit Fischernetzen, entschied sich meine Mutter dagegen, ihre Mutter allein im Dorf zu lassen, sprang aus dem Boot und rannte zurück nach Hause. Als einige Tage später die Deutschen ihre Mutter zusammen mit anderen verhafteten Frauen fortschleppten, beobachtete sie die Szene versteckt hinter einem Brunnen. Meine Mutter war sieben Jahre alt, als sie allein im Dorf zurückblieb, ihre gesamte Familie war auf verschiedene Koordinaten des Weltkriegs verstreut. Als alle, die überlebt hatten, zurückgekommenen waren, war sie neun. Neulich sagte meine Cousine, die Tochter ihrer inzwischen verstorbenen mittleren Schwester, die erst Mitte 1946 zurück aus El Shatt gekommen war: Deine Mutter ist eine Königin der Resilienz. Wir saßen in einem Café am Rand von Split, das von Touristen noch nicht überlaufen ist. Meine Mutter blies den Rauch ihrer Zigarette aus, wandte der Nichte ihr Gesicht zu, die Augen hinter einer schicken Sonnenbrille versteckt, und fragte: Resilienz, was ist das denn?

2.
Auf der Webseite des Leibniz Instituts für Resilienzforschung (LIR) in Mainz findet man folgende Definition: Psychologische Resilienz wird von uns heute nicht als festes Charaktermerkmal, welches seiner Trägerin/seinem Träger Widerstandskraft gegen Traumatisierungen und Krisen verleiht, verstanden, sondern als das Ergebnis (Outcome) einer guten psychischen Gesundheit trotz Belastungen, also als die Aufrechterhaltung oder rasche Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während und nach schwierigen Lebensphasen. (https://lir-mainz.de/resilienz)
In einem neulich vom LIR in Nature veröffentlichten Überblick klinischer Studien zur Resilienzforschung kristallisierte sich die sozioökonomische Sicherheit als wichtigste Grundlage für den Umgang mit zeitgenössischen Krisen und Katastrophen heraus. Ich bin überzeugt, dass ausgerechnet dieser Faktor für meine Mutter keine Rolle gespielt hat, aber sie war das Kind einer anderen Epoche und einer anderen Gesellschaft, in der die Werte weniger mit finanzieller Sicherheit zu tun hatten und mehr mit Idealen und mit der Freude am Leben, einer Eigenschaft der mediterranen Menschen, die ihrer Naturverbundenheit zu verdanken ist, doch das ist nur die Vermutung einer Tochter, die von ihrer Mutter ein Leben lang hörte, dass alle Probleme einfach zu lösen seien. Nema problema ist ihr Lebensmotto, das sie bisweilen leichtsinnig wirken lässt, das aber in vielen Lebenslagen meinem Bruder und mir weiterhalf.
Die Literatur wird auf der Website des LIR nicht erwähnt, wohl aber der Ratschlag, während der Pandemie etwas Gutes für sich tun und einen guten Film oder ein gutes Buch zu lesen. Doch welche Art von Erzählungen würden helfen, würden Optimismus und Zuversicht stärken? Vermutlich alle, die gut geschrieben sind. Wenn man dem berühmten russischen Märchenforscher Wladimir Propp oder dem ebenfalls berühmten amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell glaubt, dann folgen gut geschriebene Erzählungen alle dem gleichen Muster: Sie beschreiben einen Weg, der über die Überwindung von Hindernissen zu einem Ruhepunkt führt. Die Literatur entstehe aus Archetypen, so diese Forscher, die in allen Kulturen und Epochen über alle Grenzen hinweg gleich gültig seien, die sich zum Mythos verdichteten und zur Metapher für das menschliche Leben würden.
In seinem Buch Der Heros in tausend Gestalten hat Campbell auf den Spuren von Carl Gustav Jung und Sigmund Freud eine universelle Formel des Erzählens herausgearbeitet, bei der ein Protagonist / eine Protagonistin einen Ruf bekommt und sich daraufhin auf eine Reise begibt, alle Beschwernisse überwindet, um am Ende zurückzukehren, vielleicht versehrt und erschöpft, aber bereichert um Erfahrungen, die ihn oder sie geformt und zum Helden / zur Heldin gemacht haben. Campbell verbindet Mythos, Narration und Psychologie zu einer universellen Wahrheit über das menschliche Leben. Um sich selbst und die Welt zu begreifen, braucht der Mensch den Mythos; beim Zuhören oder Lesen durchläuft die Leserschaft selbst die Stationen der Heldenreise. Die Literatur und die Psychologie bilden eine Einheit, aus der sich bei der Rückkehr zur ursprünglichen Stabilität die Resilienz entwickelt. Die Resilienz erscheint im Licht der Mythenforschung als das zentrale Thema der Literatur.
In Anlehnung an C. G. Jung und Joseph Campbell verfasste Christopher Vogler Die Odyssee des Drehbuchschreibers (The Writer's Journey) , inzwischen ein Standardwerk in Hollywood. Vogler betrachtete ebenfalls die Hindernisse, die eine Heldin oder ein Held überwinden muss, als Stationen des Lebens, das nur auf einer derartigen Reise zur vollen Entfaltung kommt. Dass im Titel der deutschen Übersetzung dieses zum Klassiker der Ratgeber für das Kreative Schreiben gewordenen Buch die Odyssee vorkommt, ist nur folgerichtig: dieses Werk Homers erfüllt im höchsten Maße die Anforderungen eines Monomythos, wie Campbell in Anlehnung an James Joyce eine Heldenreise nennt. Das Epos über die Irrungen von Odysseus ist laut Max Horkheimer und Theodor W. Adorno der Grundtext der europäischen Zivilisation (Horkheimer/Adorno: Dialektik der Aufklärung). Dieser Grundtext spielt sich auf dem Mittelmeer ab: Zwischen Insel- und Festlandküsten bewegen sich Boote, vorbei an Oliven- und Kirschbäumen, Feigen und Oleandern. Unterwegs lauern dem Rausch und dem Vergessen verfallene Lotophagen, einäugige Kyklopen, menschenfressende Laistrygonen, Zauberinnen und Sirenen. In einem Fischerdorf wartet eine Frau auf die Rückkehr ihrer Liebsten, die der Krieg verstreut hat. Einige werden nicht zurückkehren, andere stecken noch in einer Höhle fest, wieder andere kämpfen gegen stürmische Winde, Wellen und Seeungeheuer.


3.
Warum schreiben Menschen? Warum lesen sie? In der Poetik von Aristoteles, einer der ältesten Abhandlungen über die Dichtkunst, wurde eine Antwort auf diese beiden Fragen gegeben, die bis heute an Gültigkeit nicht verloren hat. Es gebe zwei Ursachen der Dichtkunst (Aristoteles: Poetik), behauptet Aristoteles: die Nachahmung (mimêsis) und die Freude (chairein) darüber, dass man durch Empfangen einer kunstvoll ausgeführten Nachahmung zur Erkenntnis und zum Genuss kommt. Die erste Ursache betrifft laut Aristoteles den Schaffensprozess, die zweite die Rezeption. Der Schöpfer und der Empfänger der literarischen Botschaft sind unzertrennlich verbunden. Die Erkenntnis ist sowohl intellektuell als auch emotional, genauso wie der Genuss ästhetisch und emotional ist; die Entstehung und die Wirkung der Literatur berühren die gleichen Aspekte der menschlichen Existenz. Nachahmung bedeutet für Aristoteles die Übertragung der existentiellen Möglichkeiten in Kunst. Damit sich dabei der Sinn offenbart, folgen die Dichter den Leitprinzipien der Wahrscheinlichkeit und der Notwendigkeit. Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit. Das Allgemeine besteht darin, dass ein Mensch von bestimmter Beschaffenheit nach der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit bestimmte Dinge sagt oder tut (…).
Die Literatur ist der Ausdruck menschlicher Gedanken, Gefühle, Erfahrungen und Bestrebungen sowie eine Einladung zum Dialog. Sie ist nicht nur der Erkenntnis, sondern auch der Ästhetik verpflichtet; die Schönheit kann auch in der Nachahmung des Hässlichen und des Grausamen entstehen, wenn das wahrscheinlich und notwendig ist. Nach Aristoteles gelingt das am besten Homer: (Er) hat in der Sprache und der Gedankenführung alle anderen übertroffen . Homer schien sich seiner Fähigkeiten bewusst gewesen zu sein. Auf dem Hof des Königs der Phäaken sang ein blinder Dichter – ein metapoetisches Augenzwinkern – vom Leiden Odysseus und seines Gefolges. Odysseus, der sich inkognito auf dem Hof aufhielt, begann beim Zuhören heimlich Tränen zu vergießen. Hier verwies der selbstbewusste Barde auf eine wesentliche Funktion der Dichtung: Für den Rezipienten ist sie ein Mittel, um sich selbst zu erkennen und um Emotionen zuzulassen, die sonst tief verborgen geblieben wären.
Nicht alle Heldinnen und Helden bekommen die Möglichkeit, den vollen Kreis ihrer Reise zu durchziehen, manche Wege verlaufen tragisch. Anstelle von Resilienz tritt Katharsis. Denn die Handlung muss so zusammengefügt sein, dass jemand, der nur hört und nicht auch sieht, wie die Geschehnisse sich vollziehen, bei den Vorfällen Schaudern und Jammer empfindet. Éleos und phóbos, Schauder und Schrecken, Mittgefühl und Angst, sind zwei Gefühle nach zwei Göttern benannt. Der Legende nach versammelten sich auf der Agora in Athen Flüchtlinge vor dem Altar von Éleos, dem Gott der Gnade und des Mitgefühls; Phóbos, der für Angst und Panik steht, und sein Bruder Deimos, der die Gefühle von Angst und Furcht personifiziert, sind beide Söhne des Kriegsgottes Ares. Seit Tausenden von Jahren weilen diese Götter an den Küsten des mythischen Meers, und man könnte sogar annehmen, dass es unter der Sonne nichts Neues gibt.
Bei diesem Gedanken an die Sonne entschied ich mich, meine achtundachtzigjährige Mutter anzurufen und diesen Text mit einer Botschaft von ihr zu beenden, sollte sie bereit sein, ihre Lebensweisheit mit uns zu teilen. Ich wollte wissen, was unter Umständen ihren Optimismus erschüttern und ihre Resilienz auf die Probe stellen könnte. Ich wusste, dass die zunehmende Hitze der letzten Jahre ihr Sorgen bereitet und dass sie einzig bei Erwähnung der globalen Erwärmung nicht ihr berühmtes Nema problema ausspricht. Aber sie hatte keine Zeit für ein Gespräch, sie schaute bestens vergnügt Fußball im Fernsehen, Kroatien spielte gegen Portugal. Meine Mama, Odysseus und Penelope in einer Person, saß allein in ihrer bescheidenen Wohnung in der dritten Etage ohne Aufzug und feuerte ihre Mannschaft an, wobei sie auch die Portugiesen toll fand, wie sie mir noch schnell sagte, bevor wir auflegten.
Nach dem Gespräch dachte ich darüber nach, ob Homer vielleicht doch nicht bereits alles gesagt hat, da er von unseren Klimaveränderungen nichts wissen konnte, doch dann erinnerte ich mich an die Episode auf der Insel des Sonnengottes Helios. Auch wenn Odysseus seine Gefährten schwören ließ, die heiligen Rinder des Sonnengottes zu respektieren, hielten diese dem Hunger nicht stand und schlachteten sie. Zur Strafe kamen sie alle in einem Sturm um, nur Odysseus, der zu verzichten wusste, überlebte. Er klammerte sich an den Mast des gekenterten Schiffs und trieb tagelang durchs Wasser. Sieben volle Jahre musste er noch warten, bis er weiter nach Ithaka fahren durfte, denn Helios ließ sich nicht so einfach beschwichtigen. Bewahre stets Ithaka in deinen Gedanken. / Dort anzukommen ist dein Ziel riet seinem Leser, seiner Leserin Konstantinos Kavafis, der griechische Dichter aus Alexandria zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts. Ithaka hat dir eine schöne Reise beschert. / (…) Weise geworden, mit solcher Erfahrung / Begreifst du ja bereits, was Ithakas bedeuten (Konstantinos Kavafis: Das Gesamtwerk).

© Alida Bremer