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Versuche zur Lesung
Auszug 1:
Birgit Schwaner
Versuch zur Lesung
Erste Notizen
Die Lesung. Genauer: die Autor*innenlesung, der auch in der Alten Schmiede seit bald fünfzig Jahren (1975) Raum gegeben wird. Hier und hier. Hier die Schriftsteller und Dichter*innen, die die von ihnen geschriebenen Sätze laut vor-lesen, aus-sprechen. Ihnen gegenüber das zweite Hier, die schweigend Zuhörenden. Und zwischen beiden: der Text. (Sie merken, ich gehe stets von der sozusagen klassischen, minimalistischen Situation einer sogenannten ›Wasserglaslesung‹ aus – übrigens ein Begriff, über den wir später noch reden können.)
Der Text existiert bereits in schriftlicher Form.
Wir leben (noch?) in einer Gesellschaft der Schriftkultur, für die, in den Worten Heinz Schlaffers, gilt: »Soll Gesprochenes bedeutungsvoll sein (), so geht ihm Schrift als Konzept voraus oder folgt ihm als Protokoll nach.«
(Entsprechend auch die Hierarchie der Sinne: das Auge gilt in Sachen Wahrnehmung mehr als das Ohr.)
Literatur hat jedoch, wie wir wissen, ihren weit in die Vergangenheit zurückreichenden Anfang in mündlichen/oralen Traditionen großteils schriftloser/präliteraler Gesellschaften. Wer nach den Ursprüngen des Phänomens Lesung fragt, landet – hier, salopp, nur einige Stichwörter – bei den Geschichtenerzählern des alten Orients, der mündlichen Tradierung von Mythen und Legenden in der frühen Antike, bei der Verbindung von Poesie, Tanz und Tönen (Lieder, begleitet von Lyra und Kithara), bei Zauber- und Bannsprüchen, schamanischen Liedern, oder später im Mittelalter beim Lautenspiel der Troubadours. In einigen Gegenden Osteuropas haben sich Reste dieser »archaischen Mündlichkeit« erhalten, die auch das Bild des Dichters, der Dichterin beeinflussen, das noch stärker als bei uns mit der Vorstellung göttlicher Inspiration verbunden ist. Ein Nachhall bis ins 21. Jahrhundert.
So erzählte mir eine Freundin von der Lesung eines Dichters aus dem slawischen Raum, der seine Gedichte auswendig rezitierte – und zwar so, dass man meinte, unmittelbar zuzusehen (zuzuhören), wie ihm die Worte einfielen. Eingegeben wurden.
Auch Anja Utler beginnt ihre wissenschaftliche Arbeit ›Über die poetische Erfahrung gesprochener Gedichte‹ mit einer ähnlichen Schilderung: der Lesung des – ebenfalls auswendig rezitierenden – slowenischen Dichters Dane Zajc 2003 in der Alten Schmiede, die sie als eine ihrer intensivsten »Begegnungen mit Lyrik überhaupt« bezeichnet: »Seine Stimme legte die Gedichte um die Hörer herum, sie erzeugte – wie mir schien – ein Gefühl von Wärme.«
An dieser Stelle sei – ohne näher darauf einzugehen – daran erinnert, dass in der Lyrik, in der Rhythmus, Klang und Anklang eine wesentlich größere, gleichsam den Sinn mittragende Rolle spielen als – zumeist – in der Prosa, der mündliche Vortrag wesentlich ist. Ein Gedicht erschließt sich oft erst (soweit möglich, jedenfalls), wenn man es gesprochen hört. Seine Sprache erklingt und im Erklingen wird ihre lautliche Dimension offenbart.
(Anmerkung: Natürlich braucht ein komplexes Textgeflecht, das beim lauten Lesen im Zeitfluss entsteht und vergeht, auch die schriftliche Form, braucht zu seinem Verständnis ebenso das quasi ›flächige‹ stille Lesen, mit dem Augenmerk auf Wiederholung, Variation, Zeilenbruch ...)
Sprechen. Das gesprochene, bei einer Lesung ausgesprochene Wort:
Vilém Flusser schreibt über »Die Geste des Sprechens«: »Sprechen ist der Versuch, die Welt zu überspringen, um zum anderen zu kommen, aber so, dass dabei die Welt in den Sprung aufgenommen wird, eben ›besprochen‹.«
Oder beschrieben, im vorherigen Schreiben erschaffen, möchte man anfügen, da auch das laute Lesen und sogar das Schreiben ein Sprechen ist, ein inneres Sprechen, das von den ihre Texte Sprechenden nach außen getragen, aus-gesprochen wird.
Noch einen weiteren Gedanken Flussers möchte ich anführen: Der Sprechende sei auf der Suche nach anderen und richte seine Worte »wie Tentakeln in Richtung anderer«, wobei es nur zwei Hemmnisse gebe: »Probleme, die sich weigern, in Worte gefasst zu werden, und Worte, die sich weigern, ausgesprochen zu werden.« Aber gerade dies sei ein Motiv des Sprechens (ich möchte anfügen: Schreibens von Literatur): »unsägliche Probleme auszusprechen und unsagbare Worte zu sagen, um die Grenzen der menschlichen Bedingtheit weiter hinauszuschieben und den Raum der menschlichen Freiheit zu erweitern.«
Auszug 2:
Kurt Neumann
Die ideale Lesung gibt es, ihre Planung aber nicht
Wenn mir die Frage gestellt würde, wie man eine ›ideale‹ Lesung plane, müsste ich sagen, ich weiß es nicht. Das mag nach den paar Tausend Literaturveranstaltungen, für die ich im Lauf meines Lebens verantwortlich war – nach der 5000sten der Alten Schmiede im Mai 2012 habe ich zu zählen aufgehört –, vielleicht etwas eigenartig klingen.
Doch wenn ich mir einige der herausragenden und bisweilen überwältigenden oder jedenfalls denkwürdigen Lesungserlebnisse meiner nun schon mehr als fünfzigjährigen Praxis vor Augen führe, finde ich kaum miteinander vergleichbare Bedingungen und Voraussetzungen des Glückens, die man willentlich herbeiführen und steuern könnte.
Gleich bleiben nur wenige Merkmale der Lesungs- bzw. Veranstaltungskonstellation – im Hintergrund auch ihrer kulturpolitischen Grundlegungen:
Für wen sollen denn diese Lesungen, Performances, oder wie immer die öffentlichen Begegnungen mit literarischen Arbeiten genannt werden wollen, eigentlich glücken?
Für die Alte Schmiede war das von Anfang an, im Jahr 1975, klar, es ist auch in ihren Gründungsakten festgehalten: in erster Linie für die Autorinnen und Autoren, deren Arbeiten aus den unterschiedlichsten Gründen gesellschaftlicher Wertschätzung und Beachtung zugänglich gemacht werden sollen. Diese Anerkennung kann auf unterschiedliche Weise ihren Ausdruck finden, eine davon – und die vielleicht unmittelbarste – ist die öffentliche Darstellung dieser Arbeit durch die Autorinnen und Autoren selbst.
Ihre Arbeiten und Persönlichkeiten bilden das eine Kraftfeld der Veranstaltungssituation. Das andere Kraftfeld bildet das anwesende Publikum als aktuelle Repräsentation einer Öffentlichkeit, die auf Literatur, vor allem auch auf zeitgenössische Literatur, Wert legen will. (Eine tatsächlich demokratisch verfasste Gesellschaft müsste zu jeder Zeit überprüfen und sich auch sicher sein können, ob solch ein Wille tatsächlich noch vorhanden und gestaltungsbereit ist, oder ob diese Wertschätzung – als Aufklärungs- und Erkenntnismittel, Darstellungsweise des Schönen und Erhabenen genauso wie des Abgründigen, Entsetzlichen, als individuelles Emanzipationsmittel und Kraftort mitmenschlicher Empathie, als kritisches und spielerisches Untersuchungsinstrument des Denkens, der Sprache und der Kommunikation – nur mehr aus Gewohnheit, Ritualen und Lippenbekenntnissen besteht, die durch entsprechende Parolen und Propaganda aus ihren Angeln zu heben wäre.)
Wenn es sich also um die Öffentlichkeit einer demokratisch verfassten Gesellschaft aus mündigen und urteilsfähigen Bürgerinnen und Bürgern handelt – auf den überwiegenden Teil der Besucherinnen und Besucher von literarischen Veranstaltungen trifft dieses Selbstverständnis auch heute noch zu –, dann besteht die Aufgabe der Organisatoren und der Moderatorinnen und Moderatoren lediglich darin, diese zwei Kraftfelder in der Veranstaltungssituation miteinander in produktive Verbindung treten zu lassen.
Ganz einfach.
Es ist klar: bei komplexen literarischen Kunstwerken lassen sich mit und in einer Lesung nur einige ausgewählte Aspekte behandeln, sie kann weder die Lektüre eines Buches ersetzen, noch die gesamte literarische Entwicklung des Autorengastes darstellen. Das zählt nicht zu ihren Aufgaben. Es geht vor allem um unmittelbare Werkpräsenz, von der Impulse für ein urteilsfähiges Publikum ausgehen sollen, sich selbst im Detail mit der Arbeit, dem Werk der Lesenden zu befassen. Das Angebot einer gemeinsamen Diskussion mit den Autorinnen und Autoren kann dazu oft zusätzliche Anreize bieten.
Eine konzipierte Performance wiederum muss ohnehin voraussetzungslos beim Publikum wirksam werden können, andernfalls würde sie den eigenen Anspruch von Evidenz von vornherein verfehlen.
Wie kenntnisreich und detailgenau Moderatorinnen und Moderatoren Lesungen des jeweiligen Autorengastes einleiten können, ist für deren Gelingen viel weniger wichtig, als oft angenommen. Freilich wäre die Kenntnis wesentlicher Merkmale und Absichten des jeweiligen Werkes von Vorteil.
Weder eine sich zentral positionierende Moderation massenmedialer Talkshows und Diskussionsrunden, noch die Dozentur akademischer Lehrveranstaltungen, und auch nicht das Verfassen von Rezensionen – Einleitung und Moderation sind Domänen mündlicher Geistesgegenwart – bieten taugliche Muster der Vermittlung für die Unmittelbarkeit einer Lesung vor Publikum.
Gerade in dieser Unmittelbarkeit nämlich liegt deren unvergleichliches Potential.
()
Auszug 2:
Nika Judith Pfeifer
annäherungen an die lesung // annäherungen an ›lesung‹
() so sind wir hier zusammen gekommen – die sinne, es geht ja schließlich um die sinne – zusammen gekommen, um zu hören sehen schauen mit den augen und so weiter: und um gleichsam zu STAUNEN, eigentlich geht es ja immerzu ums staunen und sharen neben dem überleben & wachsen & lernen & weiterkommen & erfahrungen sammeln aber vor allem um die drei wichtigsten dinge im leben: unterhaltung unterhaltung unterhaltung – im sinne von 1 unterhalten werden 2 staunen 3 empören, sich empören lassen, empört werden, 4 sich befremden lassen, 5 schockiert werden, schockiert sein u.a. der empathie und der ausdifferenzierung wegen, das ist mal die grundlage. oder mehr ein diskussionsvorschlag, das kann reichen bis zum literarischen kanon als kollektives selfie, ein abbild der gesellschaftlichen weiterentwicklung. wer was sagen darf, wem zugehört wird und wurde über die jahre und jahrzehnte hinweg. und wem nicht. auch nicht uninteressant so gesehen: literatur als kollektive funktion und institutioneller staatsapparat und was sie, die literatur, so alles über bücher und lesungen etc. zusammenhält und -bringt: z.b. uns, aber ja das ist jetzt noch nicht fix. weil man kann, wenn es dunkel ist und das bühnenlicht an ist, wenn man also da auf der bühne sitzt, man also niemanden sehen kann, also da müsste sich das publikum schon selbst melden, wenn es im dunkeln tappt oder was zu sagen hat. oder einfach reinreden. man könnte auch von hier oben aus versuchen, zu erahnen, was das publikum hören will, was es sich vorstellt. was für erwartungserwartungen da erfüllt werden wollen. je nachdem, wer sich was wie in welchem thema, in den diskursen wo auch immer findet. oder im tonfall, in der darstellung, in der haltung! zu allem möglichen. das ist die frage. diese wichtige frage!! kann man das denn alles auf dem schirm haben, stets selbstreflexiv bleiben trotz dieses horrend hohen kulturellen angebots, trotz all der bücher und themen die um einen schwirren, des kunstgeschmacks auf der höhe der zeit oder avantgarde oder arrière-goût egal ob zeitlich und in alle richtungen trotz der hohen anforderungen, die sie – also kulturelles angebot, kunstgeschmack, konsum, etc. – und die lesenden an die zuhörenden stellen, all diese vielen entscheidungen und auswahlen zu treffen, bis sie im kanon landen, guten abend, hallo dabei alle so schön individuell, wie schön sie hier zu sein sehend und so immerzu ey s’up was wo wie empfohlen, was muss sein, und was gesehen haben, wohin gehen, wohin ziehts einen, was zieht man sich rein, was könnte einem was geben, was gibt mir was uff wirklich und so weiter
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Auszug 3:
Margret Kreidl
Dreiunddreißig Sekunden
Tageszettel, 15. April 2023
In der heutigen Rubrik der Frankfurter Anthologie lese ich die Ballade von Eustache Deschamps, einem der berühmtesten französischen Dichter des 14. Jahrhunderts. Der sechzigjährige Autor listet die physischen und psychischen Verwüstungen auf, die das Alter dem Menschen zumutet. Der Dichter und Übersetzer Ralph Dutli hat die Ballade ins Deutsche übertragen und unter dem Titel Lauter kleine Körperkatastrophen kommentiert. Deschamps wollte »die Poesie vom Gesangsvortrag – der die Kunst der Troubadoure und Minnesänger prägte«, ablösen, schreibt Dutli. »Eine Abnabelung, die entscheidend für die moderne Dichtung werden sollte. Gedichte werden gelesen, vorgetragen, nicht mehr gesungen.«
1392 hat Eustache Deschamps in seinem poetologischen Traktat Die Kunst des Dichtens über die »natürliche Musik« der menschlichen Stimme geschrieben. Meine erste Veröffentlichung in Buchform ist 1994 im Dialog mit der Sängerin Ute Wassermann entstanden. Meine Stimme ist ein Alphabet von Akkorde bis Zwerchfell, Utes Traum-Miniaturen tragen den Titel Sitz der Stimme.
Als Studentin bin ich in Graz regelmäßig zu Lesungen gegangen, ins Forum Stadtpark, ins Haus der Jugend. Die Stimmen von Autoren und Autorinnen haben mich aufmerksamer gemacht für das Buch als Raum, den ich als Zuhörerin leibhaftig erfahre und mir als Leserin selbst einrichten muss. Durch das Zuhören bin ich zum eigenen Schreiben gekommen, zu meinem Atem im Satz, zum Rhythmus, zum Tanz auf einem Blatt Papier.
Vor mir auf dem Schreibtisch liegen zwei Briefe von Zuzana K., die ich Anfang Februar bei der Lesung mit Mila Haugová in Bratislava kennengelernt habe. Ein weißes Blatt Papier und ein vergilbtes Blatt Papier mit einer zarten, nach rechts geneigten lila Handschrift. Die Sätze bewegen mich beim Wiederlesen.
Es war etwas Besonderes und wirklich traumhaft für mich, weil ich zum ersten Mal die Schönheit der Sprache körperlich erlebt habe. Dass das Wort nicht im Widerspruch zu den dahinter verborgenen Bedeutungen stand, sondern das Mittel war, das sie hervorbrachte. Vielleicht hat es damit zu tun, dass, wenn Sie Ihre Gedichte lesen, es ist, als ob Sie gleichzeitig der ganzen Welt zuhören. Ich fühle mich auch gehört.
Tageszettel, 2. Mai 2023
Zurück von der Buchmesse, am Abend eine E-Mail von Florian Neuner mit dem Betreff »Nachbereitung Leipzig«. Es geht um die gemeinsame Veranstaltung von perspektive und IDIOME im sprachkosmos in der Klopstockstraße in Leipzig.
Der Leseabend beginnt um 19 Uhr 30 in einem kleinen Seminarraum mit einer langen Einführung der drei Zeitschriftenherausgeber. Die Zuhörer*innen inklusive der drei Autoren und drei Autorinnen sitzen eng nebeneinander in drei Reihen.
Um 21 Uhr 30 gibt es eine kurze Pause, nach zwei Stunden haben drei Autoren gelesen.
Nachdem der Text von Manon Bauer zweimal vorgetragen wurde, fordert Natalie Deewan das Publikum auf, ihre Textmontage mit verteilten Stimmen im Stehen vorzulesen.
Es ist 22 Uhr 30 und ich bin als letzte dran. Der Rücken tut mir weh, ich bin erschöpft und schaue in erschöpfte Gesichter. Florian Neuner macht seine Einleitung. Ich sage, dass ich einen Text von zehn Minuten aus den IDIOMEN 13 vorbereitet hätte. Ich nehme das Plastikschwein, das Lucas in einem Nebenzimmer gefunden und auf den Lesetisch gestellt hat, in die Hand und drücke es QUIETSCH. Ich sage: Anfang der Lesung. Ich halte das Plastikschwein 33 Sekunden lang in der Hand, drücke es QUIETSCH und sage: Ende der Lesung.
Das waren aber nicht vier Minuten 33*, sagt Thomas Eder nach der Lesung zu mir. Nein, sage ich, das wäre zu lange gewesen. Ich werde dein neues Buch nicht lesen können, ohne an John Cage zu denken, sagt Mathias Traxler auf der gemeinsamen Tramfahrt zurück ins Stadtzentrum. Und Lucas sagt: »Deine Lesung war die ideale Lesung.«
* John Cage berühmtes Stück 433, in dem viereinhalb Minuten lang nichts geschieht, besteht aus drei Sätzen, zu 33 Sekunden, 2 Minuten 40 und 1 Minute 20.
Auszug 4
Jörg Piringer
()
eine performance
das ist strukturierte zeit
zuerst passiert das
dann das
dann wieder etwas anderes
oder es passiert die ganze zeit
das gleiche
so lange bis die performance aus ist
oder alle zusehenden keine lust mehr haben
und die performerinnen alleine übrig bleiben
oder es passiert nichts
das wäre schön
einmal nichts
nichts passiert
rein gar nichts
kein ticken der uhr
null minuten
null sekunden
null millisekunden
die atome bleiben stehen
frieren ein
auf dem absoluten nullpunkt
die photonen halten inne
nicht ist mehr zu sehen
vollkommene finsternis
das herz hört auf zu schlagen
wie schön
ach wie schön
wäre das
()