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Writers in Prison/Writers at Risk Day 2023 - Mahvash Sābet
Writers in Prison/Writers at Risk Day 2023 - Mahvash Sābet
Cornelia Travnicek
Der Spatz
Eines Tages bei der Rückkehr vom Gefängnisspaziergang
traf ich auf meinem Weg einen Spatz, der auch Luft schnappte.
Er pickte an einem Stück gefrorenen Brots,
einer alten Krume, die zwischen uns im Schnee lag.
»Du und ich, wir beide sind hungrige Gefangene«, sagte ich.
Daraufhin ließ er von dem Brot ab und flog weg,
und ich fragte mich: »Bist du weniger als dieser Sperling?
Warum lässt du nicht auch das Brot fallen wie dieser Vogel?
Warum kannst du dich nicht befreien von diesen Brosamen –
und den Wörtern?«
(Mahvash Sābet)
Mit manchen Menschen geht Gott. Er ist bei ihnen, und schreiben Sie, so ist er in ihren Zeilen.
Denken wir an wegen ihrer Religion Verfolgte, denken wohl die wenigsten von uns an die Bahá’í im Iran. Nicht viel wissen wir in Österreich im Allgemeinen über diese im 19. Jahrhundert begründete Religion, die monotheistisch ist und es gleichzeitig schafft einen Großteil aller anderen Weltreligionen in sich zu vereinen. Als Manifestationen oder Vertreter Gottes werden von den Bahá’í zum Beispiel sowohl Moses, Jesus, Zarathustra, Siddhartha Gautama und Mohammed als auch Krishna anerkannt. Darüber hinaus spielt die Wissenschaft ebenfalls eine wichtige Rolle im Weltverständnis dieser Religion. Da aber im islamischen Glauben Mohammed der letzte Prophet ist, steht die Lehre der Bahá’í aus der Sicht des islamischen Regimes im Iran im direkten Widerspruch zur Staatsreligion. Das macht die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft zu Verfolgten. Aktuell werden jede Woche mehr Bahá’í verhaftet, viele von ihnen im hohen Alter. Da den Bahá’í vorgeworfen wird, Zionisten zu sein, hat die internationale Lage die Situation noch verschlimmert. Mahvash Sābet ist eine von ihnen. Eine der Bahá’í, eine der Verhafteten.
Mahvash Sābet, geboren 1953, hat Psychologie studiert und arbeitete als engagierte Lehrerin und Direktorin an Schulen. Sie ist Ehefrau, Mutter eines Sohnes und einer Tochter und Großmutter einer zweijährigen Enkelin. Heuer ist sie 70 Jahre alt.
Bereits 2008 war Mahvash Sābet gemeinsam mit den sechs anderen Mitgliedern des informellen Führungsgremiums der Bahá’í im Iran zu je 20 Jahren Haft verurteilt worden. 2017 wurde sie zwar nach zehn Jahren Haft aus dem berüchtigten Evin-Gefängnis entlassen, jedoch bloß um im Jahr 2022 zum zweiten Mal zu zehn Jahren verurteilt zu werden – ohne neue oder handfeste Vorwürfe. Das Regime bezeichnet sie und andere als »ausländische Agenten«, denen die »Verbreitung der Lehren des Kolonalismus«, Verstöße gegen Versammlungsgesetze und die »Gefährdung der nationalen Sicherheit« vorgeworfen werden. Das Urteil fiel nach nur einer Stunde Verhandlung. Gegenstand der Befragungen in 2022 waren unter anderem Gedichte, die Mahvash Sābet während ihrer ersten Haft schrieb. Man versuchte in ihrer Poesie, in ihren Zeilen Verwerfliches, verbotene Gedanken zu finden. Man warf dem Vogel vor, dass er die Frechheit besaß, im Käfig zu singen, den Käfig zu besingen.
In der Haft ist Mahvash Sābet isoliert, sie leidet an mehreren Erkrankungen und Verletzungen, die sie sich unter Gefängnisbedingungen zugezogen hat, wie Knochentuberkulose und gebrochene Knie. »Unter Gefängnisbedingungen zugezogen«. Solche Phrasen sind die Sprache der offiziellen Medien. Was das genau bedeutet, können wir nicht wissen, nur erfühlen. Wir wissen jedenfalls: Sie wird unzureichend behandelt.
Aus Mahvash Sābets Gedichten spricht manchmal eine zweifelnde, am Ende aber ungebrochene Frau zu uns. Ihre Texte erzählen von ihrer Resilienz, ihrer Sorge um ihre Schwestern im Geiste. Trotz allem ist noch Hoffnung im Gesang dieses Vogels und Mitgefühl für die, die mit ihm im Käfig sitzen. Denken wir heute an Mahvash Sābet, so sagt sie uns: Denkt auch an alle anderen. Das ist die Essenz ihrer Botschaft. Sie will, dass wir nicht nur von ihr wissen, sondern von jeder einzelnen, die mit ihr unschuldig gefangen ist. Und hören Sie ihre Gedichte, werden Sie verstehen, warum sie vielleicht isoliert, aber niemals alleine ist: Gott wandert durch Mahvash Sābets Zeilen, ein Gott in allem, ein widerständiger Gott der universalen Schönheit.
Zu solch einer Zeit wirst du wiederkehren
Ich fürchte die Zeit,
da mir die Langmut nicht mehr eigen,
wenn die brüchige Hoffnung weggeblasen ist,
wird die Liebenswürdigkeit verschwunden sein,
wenn der Wind mich verstreut hat
und meine Augen vom Weg abgekommen sind –
O wenn sich mir keine Türe öffnet, keine einzige –
weiß ich, ganz sicher ist das die Zeit,
da Du wiederkehrst.
(Mahvash Sābet)
Mahvash Sābet ist Ehrenmitglied des österreichischen P.E.N.-Clubs. Ihr größtes Verbrechen war, die Hoffnung zu haben, so zu leben, wie sie es wollte.
Text: © Cornelia Travnicek
Die beiden im Rahmen des Textes veröffentlichten Gedichte stammen aus Mahvash Sābets Lyrikband: Keine Grenzen. Gedichte aus dem Gefängnis (Aus dem Englischen von Helmuth A. Niederle, sowie ein aus dem Farsi übertragenes Gedicht von Nahid Bagheri-Goldschmied; edition pen, Löcker Verlag 2016).
Mit freundlicher Genehmigung des P.E.N.-Clubs und des Löcker Verlags.