der hammer 123 / 2022
Writers-in-Prison-day

Writers-in-Prison-day: Literatur schreibt Geschichte

November 2022

Bina Sarkar Ellias
Die satanischen Verse
in Solidarität mit Salman Rushdie


erstich mich
zehnmal
fünfzehn mal
erstich mich
eine Million Mal
die Tinte
meines Blutes
wird immer noch strömen
die Tinte
meines Blutes
wird weiterlaufen
um die satanischen Verse
zu entschleiern
die unserem friedlichen
Leben Gewalt antun.
ein Mitternachts-
Kind bin ich
mit den Flügeln der
Wahrheit, ich fliege.

Aus dem Englischen von Helmuth A. Niederle

Zeugnis ablegen
Literatur schreibt Geschichte

Noch ist es ruhig im Saal, das Licht ist gedimmt. Auf einem leeren Sessel in der Aula der Universität von Uppsala steht ein Bild von Salman Rushdie. Langsam füllen sich die Reihen mit Delegierten, sie murmeln in vielen Sprachen, umarmen einander, Namen werden gerufen. Die Neuen zeigen ihre Namensschilder, welcome, känner vi varandra! Die zum Weltkongress des Internationalen PEN-Club angereisten Schriftsteller*innen werden sich vier Tage lang im herbstlichen Schweden aufhalten, um über Literatur und die Situation der Menschenrechte in ihren Ländern zu sprechen. Das, was Salman Rushdie, dem ehemaligen Präsidenten des PEN Amerika, angetan wurde, ist in Uppsala präsent. Die Länderberichte des Writers-in-Prison-Komitees zeugen von gravierenden Menschenrechtsverletzungen an Autor*innen und Journalist*innen weltweit: Das Erstarken autoritärer Regierungen, die Einschränkung der freien Presse und der unabhängigen Justiz, instrumentalisierter Nationalismus und Korruption gefährden schreibende Menschen, die Missstände beim Namen nennen, die Totalitarismus und Krieg mit Worten entgegentreten. Ins Visier illiberaler Regierungen geraten zunehmend auch Autor*innen, die sich historischer Themen annehmen und Zeugnis ablegen, die die Stimme derjenigen sind, die zum Schweigen gebracht wurden. Literatur ist durch ihre Plastizität eine unerschöpfliche Quelle der Geschichtsforschung und torpediert staatlich verordnete Erinnerungskultur. Literarische Figuren treten der Geschichtsklitterung durch Authentizität entgegen, sie widersprechen den Fanatiker*innen durch das freie Wort. »Die Wahrheit liegt in der Fiktion«, sagt Salman Rushdie dazu. [weiterlesen]

Marion Wisinger

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