der hammer 112
Die Gegenwart des Roten Wien
Die Gegenwart des Roten Wien
Februar 2021
Das ›Rote Wien‹ war, so die
Politikwissenschaftlerin Hanna Lichtenberger, ein Reformprojekt, das
viele nach wie vor gültige Fragen gestellt habe – etwa »nach
Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum, der Zugänglichkeit von
sozialer und öffentlicher Infrastruktur, der Reorganisation der
Produktionsverhältnisse und dem Recht auf Wohnen.«
Auch der Zeithistoriker Helmut Konrad stellt die Reformversuche des
Roten Wien in einen progressiven Zusammenhang, wenn er sie als Versuch
beschreibt, die Krise – das Elend nach 1918, die Republik als neue
Staatsform, die Weltwirtschaftskrise ab 1929 – so zu managen, dass ein
soziales und aufgeklärtes Reformkonzept umgesetzt werden könne.
Krisenmanagement als Ansporn zu einer gesellschaftspolitischen Umgestaltung und nicht nur als Erhalt und Verschärfung des Status Quo – man wünscht sich solche Töne auch in der Gegenwart, in Monat 11 der Corona-Pandemie. Nicht zuletzt deshalb erinnern in dieser Ausgabe des Hammer die beiden Texte von Olga Flor und Wolfgang Fichna, die für das Projekt Die Gegenwart des Rote Wien (kuratiert von Gernot Waldner), verfasst wurden; ein Projekt durchgeführt vor gut einem Jahr in der Alten Schmiede.
Olga Flors Beitrag erkundet Bilder und Rollen von Frauen zwischen kapitalistischen Prinzipien und architektonischen Errungenschaften wie der ›Durchreiche‹ in Wohnküchen der 1970er: Keuschheit als Verknappungsstrategie eines wertvollen Gutes etwa, die unsichtbare Arbeit der Frau in der Küche, die mittels der Durchreiche die Produkte der Arbeit wie durch Zauberhand im Repräsentationsbereich der Wohnung auftauchen lässt.
Der Musikwissenschaftler Wolfgang Fichna erkundet die Rolle der Neuen Musik für den ›Neuen Menschen‹, den das Rote Wien hervorzubringen gedachte. Arnold Schönberg, der in der Musikgeschichte mit der Zwölftonmusik einen Grundstein für die Emanzipation von tradierten musikalischen Organisationsprinzipien legte, erfand übrigens 1920 das auf unserem Titelblatt gezeigte ›Koalitionsschach‹: Es wird von vier Partien gespielt. Schwarz und Gelb agieren als Großmächte, Rot und Grün als Kleinmächte. Ziel des Spiels: der Sturz des Königs.
Johanna Öttl