der hammer 45
Jugoslavija revisited
Literatur im Herbst: Jugoslavija revisited 5.11. – 7.11.2010
Mile Stojić, Vladimir Pištalo, Dževad Karahasan
Dževad Karahasan
Leben zwischen Spiegeln
An den vor langer Zeit gelesenen (und in der Zwischenzeit weitgehend vergessenen) Roman von Vladan Desnica erinnerte mich ein Gespräch mit meinem Freund Dragan T. Schon seit siebzehn Jahren lebt Dragan in Vancouver, so dass das Telefon für uns die einzige Möglichkeit unmittelbarer Kommunikation ist. Vor ein, zwei Jahren rief er mich an und fragte, wie es mir gehe, und musste sich notgedrungen die ganze Litanei anhören, die sich jeder anhört, der diese Frage unvorsichtigerweise einem nahen Menschen stellt.
Ich erklärte, es gebe nichts Neues, was die beste Nachricht für einen Menschen in meinem Alter ist, ich hätte aber dennoch zu klagen, weil ich zu wenig arbeitete, und das Wenige, was ich arbeitete, nicht gut sei, weil es unklar, unvollendet und oft widersprüchlich bleibe; und auch die Welt, als entfernte sie sich von mir oder ich mich von ihr, offenbare und zeige sich mir in keiner Weise, noch antworte sie irgendwie anders auf meine Mühe, sie zu erleben. Dragan versuchte, mich mit der Bemerkung zu trösten, in der Hitze, die in Sarajevo herrsche, könne man ja eigentlich nicht gut arbeiten, worauf ich ihn verwirrt fragte, woher er denn wisse, dass in Sarajevo eine unerträgliche Hitze herrsche. Er erklärte mir, dass er jeden Morgen, gleich nach der Morgentoilette, im Internet nachsehe, wie das Wetter in Sarajevo sei, und erst dann in den vor ihm liegenden Tag starte. Das sei ein Bestandteil seines Morgens geworden, wie das Zähneputzen und das Frühstück, als könnte sein Tag nicht wirklich beginnen, wenn er nicht wisse, wie das Wetter in Sarajevo sei und was es dort Neues gebe.