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neue texte. Ausgabe 4 / April 1970
Das Streben nach neuen literarischen Ausdrucksmöglichkeiten ist auch in
der hier besprochenen Nummer 4 von 1970 augenfällig. Diese enthält ein
fruchtbares Nebeneinander von ›puristischeren‹ Arbeiten, die auf Wort,
Buchstabe und Schrift fokussieren, und solchen, die beginnen erweiterte
intermediale, visuelle und konzeptuelle Verfahrensweisen in den Blick zu
nehmen. Der alle Ebenen der Zeitschrift durchdringende ›Geist des
Experiments‹ (Thomas Eder) offenbart sich nicht zuletzt in ihrem Layout, das
den Beiträgen ein hohes Maß an gestalterischem Freiraum zugesteht und
ein Ineinandergreifen inhaltlicher und formaler Komponenten ermöglicht.
So bemitteln sich die Arbeiten nicht nur unterschiedlichster
Schrifttypen und Bildelemente, sondern teilweise sogar ausgefallener
Papiersorten und -formate. Besonders stechen in dieser Hinsicht die
Beiträge Adam Jankowskis hervor: Seine Konstellation »transparenz« ist
konsequenterweise auf durchscheinendes Papier gedruckt und sein Beitrag
»n.t. PLAYMATE«, der einem Pin-up nachempfundene Umriss eines
Frauenkörpers, der vollständig mit weiblichen Vornamen gefüllt ist,
präsentiert die Ausgabe stilecht als Poster – in Farbe und auf einem
gefalteten Doppelblatt.*
Die von Eder diagnostizierte Suche nach neuen Formen, ebenso wie die internationale Ausrichtung der Zeitschrift zeigt sich in Ausgabe 4 der neuen texte unter anderem im Rahmen eines vom Autor und Künstler Jiří Valoch zusammengestellten Schwerpunkts zu Experimental-Poesie aus der Tschechoslowakei: Während Valoch die Beiträge des Autor*innen-Duos Bohumila Grögerová und Josef Hiršal in einem der Zusammenstellung vorangestellten Kommentar als »konkrete poesie im engeren sinne des wortes« bezeichnet, deren Bestreben es sei »einerseits auf die leichte manipulierbarkeit der sprache / und mit hilfe der sprache auf die gesellschaftliche manipulierbarkeit / zu reagieren, andererseits auf die veralteten poetischen schemata, die unfähig sind, die poesie zu bereichern«, finden sich im Schwerpunkt auch viele Arbeiten, die Wort, Buchstabe und Schrift zwar als Ausgangspunkt nehmen, sich aber in Richtung einer erweiterten visuellen und konzeptionellen Poesie bewegen. So enthält dieser zum Beispiel eine ›asemantische‹ Textcollage und ein »kalligraphisches gedicht« (beide von Karel Trinkewitz), Auseinandersetzungen mit den figurativen Möglichkeiten von Schrift (Jindřich Procházka) oder an sprachliche Zeichen erinnernde Miniaturbilder, die aus Schattenrissen zerteilter Rasierklingen zusammengesetzt sind (Běla Kolářová). Ladislav Nebeský beforscht in seinen Arbeiten die poetischen Nuancen codierter Sprache und Karel Adamus experimentiert mit den visuellen Komponenten von Schrift, indem er Formen aus Punktzeichen entstehen lässt und mit sich überlagernden Papierschichten arbeitet. Die für alle diese Beispiele essenzielle Beziehung zwischen Text und Bild wird im Rahmen des Schwerpunkts auf unterschiedlichen Ebenen ausgelotet und treibt im Übrigen – wie nicht zuletzt die bereits erwähnten Arbeiten Adam Jankowskis oder etwa eine »schriftgraphik« und ein assoziativ Sprachbilder verdichtender Text von Rudolf Petrik veranschaulichen – auch zahlreiche Ausgaben-Beiträger*innen abseits des Schwerpunkts um.
Auf viele in Ausgabe 4 versammelte Beiträge trifft außerdem ein weiteres Merkmal zu, das Eder neben dem Streben nach neuen experimentellen Ausdrucksmöglichkeiten als charakteristisch für die neuen texte ansieht (vgl. Eder 1999, S. 115): das enge Zusammenwirken von literarischem Text und theoretischer Überlegung. Ein Beispiel außerhalb des Schwerpunkts ist etwa Heimrad Bäckers »hermetische ode auf hugo friedrich«. Mit Mitteln der Permutation nimmt das konkrete Gedicht auf Hugo Friedrichs Die Struktur der modernen Lyrik Bezug, wo der Philologe die poetischen Produkte der konkreten Poesie als »maschinell ausgeworfenen Wörter- und Silbenschutt« bezeichnet (vgl. Anmerkung Bäckers zu seinem Text, in: neue texte 4/1970). Bäckers Text lässt sich als ironischer Kommentar »auf die Kritik an der konkreten Poesie mit den Mitteln konkreter Poesie« lesen (vgl. Reichmann, KLG, 6/13, S. 3).
Wie Ausgabe 4 in verdichteter Weise zeigt, schuf Heimrad Bäcker mit den neuen texten ein Forum der kontinuierlichen literarischen und theoretischen Auseinandersetzung für experimentelle Literatur, das für viele Autor*innen – nicht zuletzt für Bäcker selbst – als wichtiger Ort der Anregung und der Erprobung neuer Formen diente.
In der Galerie der Literaturzeitschriften kann die Ausgabe gemeinsam mit einigen weiteren Exemplaren der neuen texte eingesehen werden. Außerdem sind einige Ausgaben der neuen texte noch im Droschl-Verlag erhältlich.
*Ein aus heutiger Sicht wünschenswertes kritisches Verhältnis zu textueller und visueller Objektifizierung von Frauen, die als Autorinnen in der Ausgabe übrigens deutlich unterrepräsentiert sind, wird im Rahmen des Beitrags leider nicht hergestellt.
Verwandte Veranstaltung:
Am 19.10. wird Heimrad Bäckers nachschrift (1986), die Friedrich Achleitner als »Hauptwerk der konkreten poesie« bezeichnete, als 81. Grundbuch der österreichischen Literatur in der Alten Schmiede besprochen. Lesung ausgewählter Passagen: Franz Josef Czernin; Referat: Klaus Zeyringer; Redaktion und Moderation: Klaus Kastberger, Kurt Neumann.
Zeitschriftengeschichte auf einen Blick:
Die Zeitschrift neue texte, erschienen von 1968 bis 1991 in Linz, war neben einigen weiteren Literaturzeitschriften, wie z.B. den manuskripten (ab 1960) und freibord (ab 1976) eine der wichtigsten Plattformen für experimentelle Literatur in Österreich. Der Herausgeber und Schriftsteller Heimrad Bäcker veröffentlichte »in erster Linie solche Texte, die formales Neuland beschreiten, Literatur, die nach neuen Möglichkeiten des literarischen Sprechens sucht und es sich zur Aufgabe macht, vorgegebene Modelle und Traditionen zu überwinden« (vgl. Reichmann, KLG 6/13, S. 2–3.). Der Fokus der Zeitschrift lag auf konkreter, visueller und konzeptueller Poesie von arrivierten ebenso wie noch unbekannten Autor*innen aus Österreich ebenso wie aus anderen Ländern. Insbesondere charakteristisch für die neuen texte ist nach Thomas Eder hierbei das »Nebeneinanderstehen und Ineinandergreifen von Primär-Texten und theoretischen Analysen« (vgl. Eder 1999, S. 115).
1976 wird die Zeitschrift um den Buchverlag edition neue texte erweitert, die ein zusätzliches Publikationsforum für experimentelle Texte bietet. 1992 wird die Edition durch den Droschl-Verlag übernommen, die Zeitschrift wurde 1991 eingestellt.
Lena Brandauer (Alte Schmiede)
Quellen:
Holger Englerth, Tanja Gausterer, Volker Kaukoreit: Österreichs Literaturzeitschriften 1945–1990 im Überblick. Eine Einleitung, https://www.onb.ac.at/oe-literaturzeitschriften/Einleitung.pdf (abgerufen am: 25.9.2021)
Thomas Eder: »Heimrad Bäckers ›neue texte‹ / ›edition neue texte‹«, in: Poesie konkret visuell konzeptuell. Hg. von Josef Linschinger. Wien/Klagenfurt: Ritter 1999, S. 113–120.
Thomas Eder: neue texte ; edition neue texte (https://stifterhaus.at/stichwoerter/neue-texte-edition-neue-texte, (Stand: 21. April 2015; abgerufen am 25.9.2021)
Eugen Gomringer: »vom vers zur konstellation. zweck und form einer neuen dichtung« (1954) in: konkrete poesie. deutschsprachige autoren. anthologie. Hg. von Eugen Gomringer. 2. Aufl. Stuttgart: Reclam 2018 (reclams universal-bibliothek nr. 19554, S. 249–256).
Wolfgang Reichmann: »Heimrad Bäcker«, in: Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – KLG – 6/13, Hg. von Heinz Ludwig Arnold, München: edition text + kritik 1978ff.
Ruth Esterhammer, Fritz Gaigg, Markus Köhle: Handbuch österreichischer und Südtiroler Literaturzeitschriften 1970–2004. Bd. 2, Innsbruck/Wien/Bozen: Studien Verlag 2008, S.706–709.
Achleitner, Friedrich: »Über die Beschreibbarkeit des Unbeschreibbaren oder der Versuch eines Nachworts zur nachschrift«, in: nachschrift. 3. Aufl., Graz/Wien: edition neue texte – Literaturverlag Droschl 2018, S. 131–132.