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StreitBar 1/3:
Am schwersten sind die Titel. Auch für das eigene Leben (Katharina Tiwald)
Am schwersten sind die Titel. Auch für das eigene Leben
von Katharina Tiwald
1928 war Virginia Woolf 46 Jahre alt, drei Jahre älter als ich jetzt, 2022, also 94 Jahre nach ihren Lectures an der University of Cambridge. 1928 war mein Großvater, der Lehrer, ein Jahr alt. 1929 krachte es im Finanzgebälk, der Dow Jones fiel erst um 13,47%, tags darauf um 11,7%, und ich fange mit diesen gehäuften Zahlen an, weil vielen etwas, wenn es um Virginia Woolf geht, nicht bewusst ist.
A Room of One’s Own, jener Essayband, der auf den Vorträgen von Cambridge basiert, enthält nämlich neben der berühmten Feststellung, dass schreibende Frauen ein Zimmer für sich allein brauchen, eine weitere, die fast immer unter den Tisch fällt, wenn von diesem Text die Rede ist: eine schreibende Frau braucht Geld. Und ein Zimmer für sich allein. Woolf beschreibt das anhand ihres eigenen Beispiels: eine Tante, die in Bombay verunfallt war, hinterließ ihr 500 Pfund im Jahr. Vor Eintreten dieses Geldsegens, schreibt Woolf, habe sie ihren Unterhalt auf folgende Weise verdient: kleine Zeitungsberichte über Hochzeiten und ›donkey shows‹; Adressieren von Briefkuverts; Basteln von Kunstblumen; Vorlesen von Büchern in den Wohnzimmern älterer Damen – und ein Job im Kindergarten.
Man findet schnell heraus, wie es um die Kaufkraft von 500 Pfund im Jahr 1928 bestellt ist: »food, housing and clothes are mine forever«, schreibt erstens Woolf, und zweitens berechnen Websites wie zum Beispiel in2013dollars.com im Bruchteil einer Sekunde, dass 500 Pfund von damals heute einer Summe von 34.912 Pfund entsprechen. Umgerechnet Ende Oktober 2022 sind das zirka 40.000 Euro.
Die Tante fiel in Bombay vom Pferd, Großbritannien war ein Weltreich. Wer weiß, was die Wurzeln des Vermögens waren, das jährlich das abwarf, was heute 40.000 Euro sind. Was ich weiß, ist, dass Ende Oktober die Tageszeitung Die Presse zum Beispiel empfahl, beim Investieren, das jetzt leider krisenbedingt ein bisschen schwierig sei, auf eingesessene Firmen zu setzen: Zalando zum Beispiel, die Fetzenverschicker, oder BP. Öl halt.
Was ist Arbeit?
Eine Verwandte, die ein Wirtshaus geführt hat, fragt mich beim Kaffee, ob das eigentlich Arbeit ist, wenn ich schreibe, oder ob es mir Spaß macht.
Ich denke, ich habe gesagt, dass es Arbeit ist. Es ist schon etwas länger her.
Was ich sonst so gearbeitet habe: ein Monat Altenpflege mit 18, als man noch alle Arten von Arbeit machen durfte als Praktikantin und nicht nur zuschauen, Schrauben gezählt bei der Inventur im Baustoffgeschäft meines Vaters, wichtigen Leuten die Tür der Redoutensäle aufgehalten, alle möglichen Leute in allem möglichen unterrichtet, von erwachsenen Analphabetinnen bis zu Deutschlehrerinnen in Novosibirsk, eine Telefonzentrale bedient und mich totgelacht, weil dauernd jemand einen gewissen »Romeo Faker« sprechen wollte. Meine Stimme ist auf dem deutschsprachigen Audioguide in der Petersburger Eremitage und dort wahrscheinlich gerade ziemlich verstummt. Und das Schrägste habe ich noch gar nicht erwähnt. Das, womit ich in meinem Leben nicht gerechnet habe.
Womit ich schon gerechnet habe, irgendwie und in Umrissen: dass ich Texte schreiben werde, beruflich. Ich habe, seit ich Buchstaben entziffern kann, stets und überall gelesen, als müsste ich verhungern, wenn ich es nicht täte. »Schriftstellerin«, sagte ich einzelnen Leuten, die ich sehr gern hatte, wenn sie mich fragten, was ich werden wollte. Aber das laut rauszuposaunen, dazu war ich zu sehr als Mädchen aufgewachsen. Dazu wusste ich auch nichts darüber, wie das überhaupt geht: Schreiben und Geld. Es gab damals so gut wie keine Institutionen, bei denen ich mich hätte schlau machen können, und das Internet war erst im Baby-, wenn nicht im Eizellenstadium. Neben der Sache mit dem Schreiben dachte ich ständig in einer zweiten Schleife im Kopf daran, was ich wirklich werden will. Mit zehn: Tierärztin, darüber gibt’s einen Aufsatz aus dem Jahr 1989, mir heute vollkommen unverständlich. Zwischendurch die bürgerliche Klassik: Jus vielleicht? Und dann die sabbernde Lektüre des Vorlesungsverzeichnisses der Uni Wien, damals gab es das noch gedruckt und man konnte es durchblättern wie den Mann ohne Eigenschaften und da und dort hängenbleiben. Tibetologie und Buddhismuskunde! Afrikanistik! Judaistik! Die ganze Welt fand ich auf diesen bedruckten, bunten Seiten, wie das eben ist mit der Welt und den Seiten.
Nicht zu studieren ist mir zu keinem Zeitpunkt auch nur mit einer gedanklichen Zehenspitze in den Sinn getreten. Sprachwissenschaft und Russisch ist es geworden, vor allem ersteres kein schlechtes Studium für eine Schreibende.
Ja, aber womit habe ich denn nun überhaupt nicht gerechnet?
Im Frühjahr hat mich Stefan Kutzenberger in sein komparatistisches Seminar eingeladen, es ging um Bedingungen literarischer Produktion. Ich griff in meine Handtasche, zog ein Papiersäckchen heraus und gestand: ich verbringe die Wochenenden und Ferien bei meinem Lebensgefährten, der im Nebenerwerb eine Biolandwirtschaft betreibt. Das da – ich fädelte ein Exemplar aus dem Säckchen – ist eine Zuckerschote.
Ich stehe jeden Samstag auf dem Bauernmarkt in Fürstenfeld und verkaufe unser Gemüse, die über 40 Sorten Tomaten, die Berge von Paprika, Sellerie, Lauch, sogar Melonen, grown in Burgenland. Und außerdem: mein Geld kommt hauptsächlich vom Dienstag-bis-Freitag-Job, da stehe ich vor einer Klasse, nämlich einer NMS, in Wien Liesing, im Schatten der Türme von Alterlaa, und verbreite Wissen von Wortarten bis Hitler. Auch diese Entscheidung ist später gefallen, als mir klar war, dass ich ein prekäres Leben zwischen freiem Lehrauftrag an der Uni, Mama-lernt-Deutsch-Kursen im Integrationshaus und ein bisschen Honorar von einer Lesung da und dort auf die Dauer nicht leben will oder kann. Oder mich nicht traue. Ich will meinen Pensionsantritt dereinst nicht so erleben wie kürzlich zwei Literatenfreunde hintereinander, mit einer errechneten Pension von 280 Euro im einen Fall und 320 Euro im anderen.
Stefan fragte mich, ob ich im Literaturbetrieb als landwirtschaftlich (mit)arbeitend wahrgenommen werde und im Schulbetrieb als Autorin. Letzteres ja, sogar der Schulqualitätsmanager (die Inspektoren heißen jetzt so) sagte mir, er habe schon gehört, dass es in der Ökoschule jemanden gibt, der schreibt. Das Biobauerntum? Nein, Gott sei Dank; ich traue dem Literaturbetrieb nicht, Abschätzigkeit zu vermeiden gegenüber solchen Tätigkeiten und denen, die sie ausführen.
Aber will ich das alles? Will ich Tomate und Tafel? Oder nur das: das Wort? In der Bibel steht das so: Der Mensch lebt nicht von Brot allein, fünftes Buch Mose, Kapitel 8, Vers drei, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.
Während ich diese Sätze tippe, bin ich im Krankenstand, musste/konnte nicht in die Schule, die Mandeln sind geschwollen, die Vorstellung, den halben Tag lang reden zu müssen, ein Albtraum. Aber denken und tippen: das geht. Außerdem habe ich eine Deadline für diesen Text, ich könnte mich zwar melden und sagen, dass ich krank bin, aber lieber schreibe ich und bin verlässlich und liefere ab.
Stellen wir mal die Tomaten beiseite: das hängt mit der Lebensgemeinschaft zusammen, außerdem schmecken sie so gut, dass man mit keiner anderen Tomate rankommt, sorry. Und die Schule?
Manchmal sitze ich am Schreibtisch und denke und tippe und stricke die Worte und existiere in diesen Momenten im Gefühl, direkt in Gottes Mund zu schauen, die Gotteskiefer zu spreizen, die Gotteszähne zu sehen und hinein in den Rachen bis hin zur Gottesmandel. Die Gottesstimmbänder: sie vibrieren.
Und ich schreibe.
Ich kann auch trocken schreiben und blind. Ich kann flutschend schreiben und suchend, mit Skalpell in der Hand oder dieser Art von Pinsel, die, ich schaue das kurz nach, ›Flächenstreicher‹ heißt. Es mag schon sein, dass jedem Anfang ein Zauber innewohnt, aber ein viel größerer Zauber wohnt dem Gewordenen inne, oder besser: dem Anfang, dem das schon Gemachte, das Erfahrene, das aus Arbeit Gewordene den Rücken stärkt. Im Wissen, dass meine Bücher nur Tröpfchen im Ozean des HAUPTBUCHES sind, des Meeres aus allem Geschriebenen, im Wissen, dass ich vielleicht meinen Grabstein mir als aufgeschlagenes Buch wünschen kann, womit mein buchliches Nachleben wahrscheinlich sein Ende haben wird, weiß ich doch auch wie kaum etwas Zweites: das ist mein Ding. Das Buch ist mein Ding. Das Wort. Die Geschichte. Der Klang. Und das Erstaunliche, das Berückende und Affengeile, das entsteht, wenn man Wörter zusammenspinnt.
Ja, und die Schule??, höre ich Leute fragen, vor allem im puren Literatursetting, sie tanzen mit den Pobacken auf ihren Sitzen und zeigen wedelnd auf. Wie die Teenager in meiner Klasse.
Während meiner Aufnahmeprüfung an der Pädagogischen Hochschule – da war ich 30 –wurde ich unter anderem nach meiner Motivation gefragt. Ich sagte: es ist wunderschön zu sehen, wie einem Kind ein Licht aufgeht.
Das ist es wirklich. Und vermutlich erzeuge ich mit meiner Schul-Arbeit mehr Bewegung und Veränderung als mit der literarischen. Im Geschichteunterricht macht meine Klasse bei jeder Wahl, zuletzt bei der zum Bundespräsidenten, eine Probewahl, liest in Wahlprogrammen, die Kinder haben die Hausübung, mich am Wahlabend mit den Hochrechnungszahlen anzurufen. Ab der dritten Klasse besteht die wöchentliche Hausübung darin, an einem bestimmten Tag die ZiB 17 anzuschauen und zur ersten Nachricht Ort, Person und Inhalt zu notieren; auch wenn vieles den Kindern unzugänglich erscheint, entwickelt sich in zwei Jahren doch ein geistiger Raum von wenn nicht Wissen, dann doch deutlicher Ahnung von Welt- und Innenpolitik. Es geht, kurz gesagt, um Teilhabe – und das von Kindern, die zu 99% den berühmten Migrationshintergrund haben, was nichts heißen muss, aber kann, vor allem mit Blick auf die Sprache. Manche Kinder benutzen Deutsch wie Kinder von, sagen wir, einer Eisenstädter Fachärztin. Und sprechen eine zweite Sprache. Andere Kinder beherrschen weder in der einen noch in der anderen ein Vokabular, das über das Alltägliche hinausgeht, oder elementare Grammatikregeln.
Ich wünsche mir, dass auch diese Kinder erleben, dass es Bücher gibt, die wie Freunde sind, weil sich die eigene Erfahrung darin widerspiegelt. Und auch Bücher, in denen sie nachlesen können, was sie erfahren oder wissen möchten: unlängst sagte mir Tarik, 12 Jahre alt, dass Shlomo Grabers Der Junge, der nicht hassen wollte das erste Buch sei, das er ausgelesen habe, weil es so interessant war; Graber schildert darin seine Erfahrungen in den 30er Jahren und während des Holocausts, als er in mehreren Konzentrationslagern interniert war. Tariks Wortmeldung bedeutet einen großen Erfolg für mich, genauso wie Saras Statement über den Fantasyroman Biss zum Morgengrauen: das Buch sei viel besser als der Film, erstens könne man sich alles selber vorstellen, zweitens sei es nicht so schnell vorbei. Und ein dritter Erfolg: im Corona-Jahr 2020, als wir halbe Klassen unterrichteten, nach einem Besuch in Kafkas Sterbehaus tatsächlich seine Erzählung In der Strafkolonie mit einer der zwei Gruppen gelesen zu haben, von vorne bis hinten, mit Diskussion und allem Drum und Dran. Ich wünsche mir, dass auch diejenigen, von denen man erwartet, dass sie an der Supermarktkassa sitzen oder in die Altenpflege einsteigen werden, einmal von Kafka und Goethe gehört haben. Und von den erzählten Welten wissen, die möglich sind.
Ich könnte, wenn ich wollte, jeden Tag von früh bis spät mit der Vorbereitung auf meinen Unterricht ausfüllen. Mein Rekord, er stammt aus meiner Ausbildungszeit, ist zwölf Stunden Vorbereitung für eine gehaltene Stunde – es ging um Hitlers Machtübernahme in Deutschland 1933. Aber das habe ich schnell wieder sein lassen.
Manchmal komme ich die U-Bahn-Treppen herunter, gehe Richtung Schule, es ist in etwa halb acht, ich bin seit sechs Uhr wach, im Winter eine Unzeit, ich seufze innerlich, ich seufze schwer, weil ich eine Textidee habe, einen ganzen Wortfluss, der sich in mir staut, und genau weiß, dass dieser Fluss in fünf, sechs Stunden nicht mehr niederzuschreiben sein wird. Dann träume ich davon, um neun Uhr ausgeschlafen am Schreibtisch zu sitzen und nicht einem Raum voller Kinder gegenüberzutreten, von denen jedes auf seine Weise etwas von mir braucht, um sich entwickeln zu können.
An solchen Tagen würde ich auf die Frage, was ich tun würde, wenn ich, sagen wir, einen Bestseller lande und in Geld bade, antworten: aufhören mit dem Unterrichten.
Aber selbst dann ist meistens irgendein Moment da, ein Lächeln, eine Freundlichkeit. Ein Wort, ein Satz, der ankommt. Eine Glühbirne, die angeht.
Ich würde das Schreiben nicht aufgeben wollen für die Schule. Und umgekehrt? Bastle ich an einer Möglichkeit, mal ein Jahr pausieren zu können, Bildungskarenz, Sabbatical. Obwohl: das letzte Mal, als ich mich dank eines Stipendiums unbezahlt karenzieren lassen konnte, ist der Roman im Jahr danach entstanden.
Ich könnte noch eine Weile so weiterschreiben. Da liegen noch so viele Brocken unbeschrieben herum: die Frage nach Muttersein und Schreiben, Kinder habe ich nämlich keine; die Frage nach dem immensen Einfluss von Marketing auf den Literaturbetrieb und nach der grauen Zukunft des Lesens überhaupt, samt sämtlicher Kulturtechniken; die Frage, wo das Schreiben überhaupt herkommt. Und meine kleine Verneigung vor meinem Großvater, dem Lehrer, der 1928 ein Jahr alt war und nicht mehr ist. Er war Patriarch. Er hat zur Sicherung meines Studiums beigetragen. Er hat ständig in Frage gestellt, was ich mache. Aber er hat eins gemacht: erzählt. Erzählt und erzählt.
Und ich, ich mache einfach weiter.
Text: © Katharina Tiwald