blog

»Wenn ich ich sage, sage ich, ich weiß, aber das stimmt nicht« (Ilse Kilic)

Blog, 27. Mai 2021
»Das Ich, das von sich spricht, erschrickt gelegentlich lauthals vor sich selbst«, heißt es in Ilse Kilics jüngstem Buch Fadenspannung, in dem ihr Lektüren zum Ausgangspunkt von essayistischen, lyrischen und weiteren Betrachtungen werden. Am 19. April hat Ilse Kilic ihr Buch in der Alten Schmiede vorgestellt, hier lesen Sie einige ihrer Überlegungen zum »gefährlichen Dasein« des Ichs:

Das Ich, das von sich spricht, erschrickt gelegentlich lauthals vor sich selbst. Ich ist immer gefährlich, ein gefährliches Dasein, als Wort, als Abgrund, als Kompromiss, als Fragment. Vom Leben des Ich erzählt das Buch von Liesl Ujvary, das den schönen Titel »Das Wort Ich« trägt: 


Was bin ich denn? Ich habe den größten Teil meines Lebens
in geschlossenen Räumen verbracht, abgeschottet
von der Kälte und dem belebenden frischen Wind.
Was man eben so treibt, um zu überleben.


Welche Absichten verfolgt die Sprache, wenn sie ihre Struktur in unser Denken implantiert, sei es, indem sie die Zeit in Vergangenheit und Zukunft teilt, sei es, indem sie Gegensatzpaare erschafft, die einander ausschließen, sei es, indem sie Gegenständen ein Geschlecht zuweist. Warum ist der Löffel männlich und die Gabel weiblich? Welches Geschlecht hat das Messer? Welches Geschlecht haben Übermut und Sanftmut?

Demnächst werde ich in Frankfurt am Main das Ich-Denkmal besuchen. Es handelt sich dabei um eine Skulptur des Künstlers Hans Traxler. Sie besteht aus einem steinernen Sockel, wie ihn viele Denkmäler berühmter Personen besitzen, jedoch ist auf dem Sockel keine Statue platziert. Auf der Vorderseite steht kein Name, sondern das Wort »Ich« in goldenen Großbuchstaben, an der Rückseite ermöglicht eine dreistufige Treppe das Besteigen des Sockels, damit man sich dann auf dem Sockel in Position stellen und als »Ich« fotografieren lassen kann. Auf der Schautafel steht:


Jeder Mensch ist einzigartig.
Das gilt natürlich auch für alle Tiere. 
Halten Sie es fest für immer. Hier.


Wenn man sich also auf dem Sockel des Ich-Denkmales fotografieren lässt, hat man sein Ich in dessen Einzigartigkeit festgehalten. Das stimmt natürlich nicht ganz. Niemand kann sein Ich festhalten, festhalten kann man nicht einmal den Moment, in dem das einzigartige Foto entsteht. Das Ich ist in keinem Augenblick ganz dasselbe wie im vorigen oder im nächsten Augenblick, auch wenn es dieselben Fingerabdrücke aufweist und denselben Reisepass in der Tasche hat. Wenn man sich das Ich als Farbe denkt, sind die Veränderungen vorstellbar, die es durchmacht, wenn es einem oder vielen anderen Ichs begegnet und sich dabei mit deren Farben mischt, beziehungsweise seine Farbe durch den Widerschein anderer Farben verändert. Das Ich erscheint dabei fragil, ein instabiles Element, das nicht gleich bleibt. 

In diesem Sinne schrieb Ernst Fuhrmann: 


Ich kenne ja nicht den philosophischen Begriff des Ich, der so
unwahr ist. Ich bin eine Farbe, und mit jeder an mich
grenzenden Farbe ergebe ich etwas anderes, als ich vorher
war, aber chemisch ist auch diese neu entstandene Farbe
niemals wieder aufzulösen. 


Mir gefällt die Idee, dass das Ich eine Farbe ist, die ständig mit anderen Farben Beziehungen und Verhältnisse eingeht, sich verändern lässt und wiederum ein verändernder Faktor für die anderen Farben ist. Ich frage mich aber auch, ob es eine Farbe gibt, die dem Ich von Anfang an eigen ist, und ob, falls es sie gibt, diese dann ganz verschwinden oder gänzlich überlagert werden kann. Ich weiß nicht, ob eine eigene Farbe wichtig ist, ob sie mir wichtig sein soll oder sein will.


Aus: Ilse Kilic: »Fadenspannung. Eine Verbündung.« Ritter Verlag, 2021. S. 93-95.
Mit Zitaten aus: Liesl Ujvary: »Das Wort Ich«, Klever Verlag 2011.
Ernst Fuhrmann in: Fritz und Sieglinde Mierau: »Almanach für Einzelgänger«, Nautilus 2011.
Bild: rupp.de - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0


Eine Videoaufzeichnung von Ilse Kilics Lesung finden Sie hier.

april 2024
mai 2024
juni 2024
juli 2024