blog

die horen. »Pressköter und Tintenstrolche!« LiteraturZeitSchriften. Ausgabe Nr. 250 (2013)

Blog, 6. September 2019

die horen »widme[n] sich ›ohne Scheuklappen und unabhängig von Moden‹ (WDR) allen Aspekten zeitgenössischer Literatur. Zum Markenzeichen geworden sind die Auswahlbände zur fremdsprachigen Literatur.« (vgl. die-horen.de)
»die horen ›zu einem Spektrum neuer Bewusstheiten, zu einem Startplatz junger Talente zu machen, ohne die lebendige Tradition zu leugnen‹, das war wohl die Zielsetzung [des Zeitschriftengründers] Morawietz. Zugleich sollten sie ›ein Sammelbecken der unterschiedlichsten Zeitströmungen‹ sein, ›im Sinne einer
Z e i t – Schrift, vornehmlich des literarischen Vorfeldes, weil sich hier und nur hier Literatur noch unverstellt zeigt und nicht dem Profitdenken, den Kalkulationen des verlegerischen und buchhändlerischen Absatzes unterworfen ist.‹« (Nr. 250, S. 119.)

»Man wird sich [...] Mannigfaltigkeit und Neuheit zum Ziele setzen, aber dem frivolen Geschmacke, der das Neue bloß um der Neuheit willen sucht, keineswegs nachgeben«, schreibt Friedrich Schiller 1795 im Vorwort der ersten Ausgabe seiner Zeitschrift Die Horen. Sie erschien nur drei Jahre lang und gilt heute als wichtiges Gründungsmedium der Weimarer Klassik. Die zeitgenössische Literaturzeitschrift die horen greift den Namen auf. Zwar orientierte sich Gründer Kurt Morawietz mehr an »dem jugendlichen Feuerkopf« als an »dem späteren klassischen Ästheten« (vgl. S. 113–114.), durch die Veröffentlichung unterschiedlicher Textsorten zu einem Plural an Themenkreisen blieb das Journal Schillers Ideal der »Mannigfaltigkeit und Neuheit« jedoch treu.
Die Schwerpunktausgabe erschien bereits 2013, doch all jenen, die sich für die Literaturzeitschrift an sich interessieren, sei sie ans Herz gelegt, da sie das Medium selbstreferenziell reflektiert. In 52 Beiträgen auf über 300 Seiten stellen »Beteiligte aller Zünfte« (so Feuchert und Krätzer im Editorial) – Autor*innen, Redakteur*innen, Herausgebende und Kritiker*innen –  außergewöhnliche Literaturzeitschriften vor und kontemplieren über Funktion und Zukunft des Mediums. Die Ausgabe behandelt gattungskonstituive Merkmale von Literaturzeitschriften, wie die Zeitgebundenheit und das Vereinen inhaltlich und stilistisch unterschiedlicher Texte. Außerdem gibt sie Einblick in redaktionelle Fragestellungen: die kleine Leserschaft, die oft schwierigen finanziellen Rahmenbedingungen und sowohl die Möglichkeiten als auch die Konkurrenzsituation durch das Internet. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit widmet sie sich aktuell erscheinenden Magazinen ebenso wie vergangenen, europäischen sowie außereuropäischen Zeitschriften.

Die Nummer gliedert sich in acht Rubriken. Den Auftakt macht der Abschnitt »Nachgetragene Liebe, Konterbande« mit Texten von Thomas Böhme, Safiye Can, Nadja Küchenmeister, Uwe Kolbe u.a. Er reflektiert die Zeitschrift als Zeitzeugnis: »Eine Zeitschrift [...] spiegelt inhaltlich, sprachlich ihre Entstehungszeit, gleich, welchem Thema sie sich stellt oder nicht ausweichen kann. In diesem Sinne veraltet sie auch [...], wird sie mit mittlerem zeitlichen Abstand in ihren verschiedenen Ausgaben wiederum zu einer Chronik.« (Uwe Kolbe: »Zeitschriften, kursorisch«, S. 19.)

Demgemäß sind die folgenden Rubriken der Ausgabe chronologisch angeordnet. Unter dem Canetti-Zitat »Das ist das kümmerliche Wort vom ›Engagement‹«, mit dem der Autor das Karl Kraus'sche Oevre zu beschreiben sucht (vgl. S. 37.), sind Beiträge zu bedeutsamen Literaturzeitschriften der Jahrhundertwende und während der Weltkriege zusammengefasst: Rolf Schneider gibt etwa eine Einführung in Karl Kraus’ Lebenswerk Die Fackel. Ulrich Faure und Sascha Feuchert berichten von deutschsprachigen Exilzeitschriften, die während des Zweiten Weltkriegs in Amsterdam, Prag und Peking erschienen.
»natürlich wurde gestritten«, kommentiert Peter Härtling seine Jahre bei Der Monat. Er beschreibt sie als Zeit ebenso fruchtbarer wie wachsamer geistiger Anregungen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Das Zitat überschreibt die Rubrik zur Nachkriegszeit.
Die 70er- und 80er-Jahre werden durch persönliche Erinnerungen verschiedener Zeitschriftenherausgebender und -lesender wiederbelebt: Helmut Böttiger erinnert an die Freiburger Zeitschrift Das Nachtcafé, in der viel »Selbstgemachtes« und »Authentisches« erschien. Kerstin Hensel und Matthias Biskupek unternehmen in ihren Texten einen Streifzug durch die inoffizielle Zeitschriften-Landschaft in Ostdeutschland vor und unmittelbar nach der Wende. In einem ausführlichen Gespräch berichtet Klaus Wagenbach von seiner 1979 ins Leben gerufenen Vierteljahresschrift Freibeuter: »Die Linke zeigte sich Ende der siebziger Jahre gedanklich erschöpft. [...] Und die Idee des Freibeuter war es, dieser Erschöpfung ein bisschen Aufmunterung beizusteuern.« (S. 103.)

Der Abschnitt, überschrieben mit Schillers Kommentar zu Die Horen: »aber ich kann nie bereuen, es versucht zu haben«, enthält Portraits unterschiedlicher aktueller Zeitschriften mit längerer Publikationsgeschichte: so einen aufschlussreichen Rückblick des ehemaligen Herausgebers Johann P. Tammen auf die Entstehung und Entwicklung der horen. Den Publikationen Akzente, manuskripte, Schreibheft, eDiT, Das Gedicht und metamorphosen haben die Autor*innen Annette Brockhoff, Ingo Držečnik, Susanne Krones, Anton G. Leitner, Jörg Schieke und Herbert Wiesner ihre Texte gewidmet. Beiträge zum poet (seit Herbst 2017 poetin), der aus der Onlinepublikation Poetenladen hervorging, von Andreas Heidtmann, zu der digitalen Plattform lyrikline von Heiko Strunk und zum Phänomen der Netzliteratur von Enno E. Peter geben Einblick in die Nutzungsmöglichkeiten des Internets.

Die folgende Rubrik ist Literaturzeitschriften in anderen Ländern gewidmet. Hans Thill berichtet über das französisch-maghrebinische Magazin Intersignes, dessen kulturpolitisches Anliegen es in den 1990er-Jahren war: »den Islam als religiöses und gesellschaftliches Phänomen auf den Prüfstand zu stellen« (S. 175). Lila Konomara befasst sich mit den Literaturzeitschriften Griechenlands. Auch Beispiele aus Russland, Weißrussland, Bulgarien, Polen, Island, Korea und China finden Erwähnung. Dass die österreichische Rampe ebenso wie die deutschsprachigen Literaturzeitschriften der Schweiz im Abschnitt zur internationalen Literatur Erwähnung finden, während andere österreichische Literaturzeitschriften (Die Fackel, Der Brenner, manuskripte) in die Abfolge allgemeiner deutschsprachiger Literaturzeitschriften aufgenommen wurden, erscheint der Verfasserin, nebenbei bemerkt, als inkohärent.

Das Kapitel »Ein unerhört aufregender Gegenstand oder Stile und Schreibhaltungen« fokussiert auf Trends am Zeitschriftensektor und den gesellschaftlichen Stellenwert des Mediums. Die Rezensenten Michael Braun und Michael Buselmeier beschreiben Literatur- und Kulturzeitschriften als Medien kontinuierlicher Selbstbildung: »Kulturpolitische und literarische Zeitschriften sind ein unerhört aufregender Gegenstand. Jedesmal, wenn ich an einer neuen Zeitschriftenschau sitze, fange ich nach kurzer Zeit Feuer, lebe auf, fühle mich einbezogen in diese Altes wie Neues umfassende Einheit gegensätzlicher Geschichten, Gestalten, Stile und Schreibhaltungen, in diese exotischen Welten und Lebensläufe um Poesie und Politik.« (Buselmeier, S. 300.) Der Umstand, dass Literaturzeitschriften nie für die große Masse und insofern seit jeher finanziell prekär publizierten, so Andreas Platthaus, verschlechtert sich dadurch, dass sie auch in Rundfunk und Zeitungen immer weniger Beachtung finden (Buselmeier). Eine Krise der Literaturzeitschriften diagnostizieren auch der Redakteur und Literaturwissenschaftler Martin Lüdke und der Autor Kurt Drawert. Trotzdem halten beide das Medium für unverzichtbar. Optimismus macht sich in Gesprächen mit jüngeren Zeitschriften-Redakteur*innen bemerkbar: So interpretieren Florian Neuner, Herausgeber der Idiome, und Jan Valk von sprachgebunden die Spezialisierung und das Nischendasein von Literaturzeitschriften nicht als Manko, sondern vielmehr als Stärke, da sie eine zwar kleine, aber treue Leser*innenschaft sichern. Berührungsängste mit dem Internet bestehen in dieser Generation kaum, vielmehr erscheint es als wichtiges Medium für die Verbreitung von Zeitschriften (vgl. S. 288).

Die Ausgabe schließt mit einem fingierten Brief Ulla Hahns an Friedrich Schiller, in dem sie die Einstellung der Horen bedauert, ihm jedoch ihre Wiederbelebung durch Kurt Morawietz in 178 Jahren in Aussicht stellt; gefolgt von einem Dossier kritischer, oft unflätiger Bemerkungen von Schillers Zeitgenossen Johann Martin Nathanael Eberding, Schillers Zeitschrift betreffend. die horen Nr. 250 vermitteln ein Abbild vom Status quo der Literaturzeitschriftenlandschaft im Jahre 2013, das trotz einiger Weiterentwicklungen und Veränderungen in vielen Punkten nach wie vor Gültigkeit beansprucht. So macht sich z.B. gerade bei den jüngsten Publikationen ein Trend weg von der Professionalisierung hin zum Hand- und Selbstgemachen bemerkbar (vgl. Schundheft, mischen). Das, was Sebastian Kleinschmidt im Gespräch »die haptische Erotik des Papiers« nennt (S. 250.), erscheint nach wie vor als aktuell und besteht gleichberechtigt neben Onlineformaten.

Zeitschriftengeschichte auf einen Blick:
Gegründet im Schillerjahr 1955, wählte Kurt Morawietz den Namen der Zeitschrift in Anlehnung an Friedrich Schillers 1795 bis 1797 erschienene Monatsschrift Die Horen, da er die von Schiller postulierte Freiheit und Würde des Menschen als nach wie vor gültige und aktuelle Werte empfand (vgl. S. 114). In den ersten Jahren machte die Redaktion wiederholt durch rege Beteiligung an brisanten politischen Debatten auf sich aufmerksam: etwa, um die Wiedereinführung der Wehrpflicht in der BRD 1956 oder die Kritik an der Stationierung amerikanischer Atomwaffen in West-Deutschland im Jahr 1958. Ab den 1970er-Jahren finanzielle Absicherung durch Verlage, damit einhergehend Konkretisierung der redaktionellen Konzeption, Einführung von Themenbänden: zu Literatur, Kunst und Kultur unterschiedlicher Länder, zu vergessenen Autor*innen und weiteren literarischen Themenkreisen. Aktuell erscheint die Zeitschrift im Wallstein-Verlag.

 Lena Brandauer (Alte Schmiede)

die horen. »Pressköter und Tintenstrolche!« LiteraturZeitSchriften.
Ausgabe Nr. 250 (2013)

www.die-horen.de