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ESSAY. 50 Jahre wespennest Ausgabe Nr. 177 (2019)

Blog, 18. Dezember 2019
Im Bereich der Literatur und der Essayistik gewährt wespennest international bekannten AutorInnen eine kritische Öffentlichkeit. Jede Ausgabe enthält eine Schwerpunktrubrik mit thematischem Fokus, z.B. auf Literaturen unterschiedlicher Länder, etwa Bulgarien, Griechenland oder Ruanda, oder auf gesellschaftlich relevante Themenkomplexe (Ironie, Bürgerlichkeit, Resignation, Mensch und Maschine u.a.). Umrahmt wird diese Rubrik von einer Reihe schwerpunktunabhängiger Beiträge: etwa dem thematisch unabhängigen Literaturteil redigiert von Jan Koneffke, literarischen Reportagen verantwortet durch Ilija Trojanow und Buchbesprechungen zusammengestellt von Thomas Eder.

Der Bedeutungsrahmen, den eine bestimmte Gattung einem Text vorgibt, wird bedingt durch das Handlungspotential, das durch die Texte dieser Gattung ausgeschöpft werden kann.
(Dusini, Arno: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München: Wilhelm Fink 2005, S. 28.)

Versteht man Textgattungen, wie Arno Dusini in Bezugnahme auf Michail Bachtin vorschlägt, als sprachliche Handlungen, die nie rein aus sich selbst heraus, sondern nur unter Einbezug ihres kommunikativen Kontexts verständlich werden, so ist es für das Erfassen des Genres »Essay« unerlässlich, nicht nur dessen innertextuelle Eigenheiten, sondern auch seine spezifischen Produktionsbedingungen in den Blick zu nehmen: etwa jene Medien, die seine Entstehung fördern und seine Veröffentlichung ermöglichen. Literatur- und Kulturzeitschriften, ihr Aufbau und ihre Erscheinungszyklen, kommen der Form des Essays entgegen – seiner relativen Kürze und Dichte und der ihm möglichen ernsthaften Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen oder sozialen Fragestellungen abseits akademischer Abhandlung.
         
Die Zeitschrift wespennest hat sich in den letzten Jahrzehnten um die Gattung verdient gemacht und vielen namhaften Essayist*innen eine Plattform geboten.
Zu einer Reflexion des Essays als Form kam es bei wespennest, so schreibt die Herausgeberin Andrea Zederbauer im Editorial, bisher jedoch kaum (hier als PDF nachzulesen). Aus Anlass des 50. Jubiläums widmet die Zeitschrift dem Genre nun einen umfassenden und vielfältigen Schwerpunkt, der die Handlungsmöglichkeiten und gattungsindizierenden Merkmale des Essays auslotet. In diesem Rahmen kommen viele AutorInnen zu Wort, deren schriftstellerische Biografie mit der Zeitschrift verbunden war, etwa Josef Haslinger und Franz Schuh.

»Wenn ich mich frage, warum ich gerne Essays schreibe, fällt mir als Grund vor allem ein, dass das Essay eine ›unreine Form‹ ist. Das heißt, es ist durch die Gattung nicht fixiert, was zu ihr gehört.«, schreibt Schuh (S. 44). Die Aussage öffnet den Blick auf ein poetologisches Moment des Essays: Dass er unterschiedliche gattungsindizierende Merkmale vermischt, verweist auf die Beweglichkeit und Veränderbarkeit von Textgattungen per se. Sie sind keine »hermetisch geschlossene[n] und exklusive[n] Sätze sprachlicher Merkmale« (vgl. Dusini, S. 24.), sondern verändern sich abhängig von ihrem konkreten Gebrauch. Für Josef Haslinger sind die Förderung des freien Denkens und des gesellschaftlichen Diskurses wichtige essayistische Leistungen.
Stephan Steiner ergründet in seinem Beitrag die geschichtlichen Ursprünge des essayistischen Ichs in der frühen Neuzeit und zeigt, dass Subjektivität von Beginn an als fluide erfahren wurde.
    
Heute erscheint die Erforschung unterschiedlicher Facetten des Ichs unpopulär geworden zu sein. »Es könnte sein, dass der essayistische Impuls momentan so schwach ist, weil das, was für Benajmin, Lukács oder Musil aufregend neu gewesen ist, heute zur condition humaine gehört. Viel wahrscheinlicher ist indes, dass wir die symbolischen Orte dieser klassischen Modernisten verlassen haben, weil sie so schwer erträglich sind. Die Obsession für ›Identität‹ und ›Heimat‹ sind hierfür symptomatisch.« mutmaßt Wolfgang Müller-Funk (S. 94, hier als PDF nachzulesen). Auch in den USA hat sich die Essaylandschaft in den letzten Jahren – vor allem seit der Wahl Donald Trumps – verändert. Eindeutige politische Stellungnamen haben Konjunktur. »Da Erkenntnis immer nur eine Annäherung ist, sind gute Essayisten mit ihren eigenen Einsichten nie lange zufrieden, weil diese schnell erstarren können und nicht mehr hinterfragt werden. Aber ein gewisses Maß an gesunder Skepsis, vor allem wenn es sich um politische Fragen handelt, wird heute von manchen als Manko angesehen und als Grund, dem Essay misstrauisch zu begegnen.« (John Palattella, S. 72, hier auf Englisch nachzulesen.) 
  
Trotz der pessimistischen Diagnosen von Müller-Funk und Palattella erscheinen auch aktuell spannende essayistische Arbeiten. Andrea Roedig befasst sich in ihrem Beitrag mit dreien davon: Zadie Smiths 2018 erschienenem Band Feel Free (2018, dt. Freiheiten; 2019), Maria Stepanovas Nach dem Gedächtnis (2018) und Enis Macis Eiscafé Europa (2018). Die wespennest-Herausgeberin schreibt damit weibliche Stimmen in die bislang vielfach von männlichen Autoren dominierte essayistische Tradition ein. (S. 76, hier als PDF nachzulesen.)

Lag der Fokus in den bisher genannten Beiträgen auf der geschriebenen Variante des Genres, so befassen sich die Texte von Christine de Grancy, Michael Lissek und Jyoti Mistry mit einigen weiteren medialen Ausformungen: De Grancys Fotoessay dokumentiert ihre Aufenthalte an den Ufern der Flüsse Wolga und Niger. Lissek, Redakteur des Formats »Essay« beim Südwestrundfunk, beschreibt die Möglichkeiten des Radios, Texte durch »Tempo. Atem. Pause. Rhythmus. Irritation. Mehrspurigkeit« polydimensional zu machen (vgl. S. 83). Mistrys Beitrag gibt Einblick in ihre Notizen zu einem Essayfilm, in dem die von einer schwedischen Familie adoptierte, aus Äthiopien stammende Protagonistin das Aufwachsen in diesem kulturellen Kontext reflektiert.
    
Essayistik, so zeigt das Schwerpunktdossier des neuen wespennests, schafft es immer wieder starren Schematismen zu entfliehen und kultiviert das Denken in den Zwischenräumen. Wie gut, dass es Zeitschriften gibt, in denen die Gattung gedeihen kann!

Zeitschriftengeschichte auf einen Blick:
Mit dem 1969 erstmals erschienenen wespennest schufen die Gründer Peter Henisch und Helmut Zenker ein Forum für die gesellschaftskritische Literatur junger Autor*innen. Bald stießen mit Friedemann Bayer, Gustav Ernst, E. A. Richter und Heinz Knienieder weitere Autoren zu der basisdemokratisch organisierten Gruppe. Peter Henisch stieg 1973 aus, Zenker 1977. In den folgenden Jahrzehnten stellten Josef Haslinger, Gustav Ernst, Franz Schuh und weitere das Redaktionsteam.
Ab den 1980er-Jahren publizierte wespennest verstärkt gesellschaftskritische Essays. Außerdem fand eine Schwerpunkterweiterung hin zu Film und bildender Kunst statt. Mit Übernahme der Herausgeberschaft durch Walter Famler 1995 erhielt das wespennest sein großformatiges Layout. Seit 2014 wird die Zeitschrift mit Andrea Roedig und Andrea Zederbauer erstmals von einem rein weiblichen Team herausgegeben. Aktuell versteht sie sich als nuancierte gesellschaftskritische Literatur- und Kulturzeitschrift mit internationaler Ausrichtung (vgl. Handbuch österreichischer und Südtiroler Literaturzeitschriften 1970–2004. Hg. v. Ruth Esterhammer, Fritz Gaigg u. Markus Köhle. Innsbruck u.a.: Studienverlag 2008).

Lena Brandauer (Alte Schmiede)

ESSAY. 50 Jahre wespennest Ausgabe Nr. 177 (2019)

www.wespennest.at