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FREIBORD 45/1985: grenzenlos grenzenlos

Blog, 20. Dezember 2020
FREIBORD. Zeitschrift für Literatur und Kunst. Ausgabe Nr. 45, Jg. 10 (1985): GRENZENLOS GRENZENLOS

»Da ›die‹ Massenmedien und die tägliche persönlichkeitszerstörende Plackerei dazu führen und verführen nicht mehr zu denken, haben wir uns entschlossen, diese Zeitschrift zu publizieren. Wir steuern auf den amorphen Konsumenten und diese amorphe Gesellschaft zu, nicht um zu integrieren, sondern um zu profilieren und zu demaskieren. [...] Der kritik- und konfrontationsfähige Mensch ist die letzte Chance des Menschen. [...] Es gibt eine Dokumentationsstelle für neuere österreichische Literatur. Wir wollen in dieser Zeitschrift auch eine Dokumentationsstelle für neuere österreichische Schweinereien einrichten.« So umreißt Hermann Schürrer in der ersten Ausgabe (1976) die kämpferische Zielsetzung der FREIBORD-Gründer. In den Folgejahren etabliert sich die Zeitschrift als Plattform für eine Literatur und Kunst abseits etablierter Institutionen, ebenso wie eine experimentelle avantgardistisch ausgerichtete künstlerische Praxis. Wesentliche Inspirationsquellen sind u.a. die konkrete Poesie, der Wiener Aktionismus sowie die Kunstrichtung Fluxus.

»Was läßt uns heute, zu Beginn der 80erschleife, wieder an Fluxus denken, Fluxus schätzen. Wohl die in diesen Ereignissen zum Ausdruck gekommene Ungebundenheit und Leichtigkeit, die von vielzuvielen schwerfälligen nachfolgenden Strömungen zugedeckt wurde«, reflektiert Gerhard Jaschke in FREIBORD Nr. 23 (1981) das wieder aufkeimende Interesse an einer Kunstrichtung, mit der sich die Zeitschrift in den Folgejahren intensiv auseinandersetzt. Die Kunstströmung Fluxus benennt sich nach lateinisch ›fluere‹ – fließen und taucht, so resümiert das FREIBORD, erstmals »auf einer Einladung der gallery A/G in New York im Frühjahr 1961 auf« (vgl. FREIBORD 23, S. 64–65). Das gemeinsame Movens der durchaus heterogenen Arbeiten mit Fluxus assoziierter Künstler*innen ist hierbei unter anderem die Transgression medialer Grenzen ebenso wie der Grenzen zwischen Leben und Kunst (vgl. S. 66).
Davon, dass außer den so genannten »Fluxist*innen« auch zahlreiche andere internationale Literat*innen, Künstler*innen und Musiker*innen vor und nach den 1960er-Jahren grenzüberschreitend experimentieren und arbeiten, zeugt Ausgabe 45 des FREIBORD: Sie versammelt Werke von österreichischen und internationalen Künstler*innen, die im Rahmen von Gerhard Jaschkes zweiteiligem Autor*innen-Projekt GRENZENLOS (November 1983) und dessen »begrenzter Ergänzung« GRENZENLOS GRENZENLOS (Mai 1985) in der Alten Schmiede durchgeführt und präsentiert wurden. Sie zeugen von der kreativen Experimentierfreude und der guten Vernetzung des FREIBORD-Herausgebers gleichermaßen.

Bereits das Coverfoto des deutschen Künstlers Dietmar Kirves ist programmatisch: Eine von einem Kanaldeckel unterbrochene Sperrlinie verweist auf die Unbeständigkeit jedweder Grenzsetzung.
»beim gegenwärtigen stand der gesamtkünstlerischen entwicklung ist es illusorisch zu fragen, ob es sich noch um dichtung oder schon musik oder grafik, um (mobile) plastik oder (theatralische) aktion handelt«, zitiert der Programmtext des Autor*innen-Projekts Gerhard Rühm. Auch dessen Beitrag im FREIBORD Nr. 45 mit dem Titel »visuelle musik« –  eine mehrseitige Abfolge expressiver Strich- und Punkt-Zeichnung auf Notenlinien –  lässt traditionelle Gattungsgrenzen hinter sich. Er weckt zwar musikalische Assoziationen, ist aber zur Betrachtung mit den Augen und nicht zur Interpretation durch Instrumente gedacht (vgl. G. Rühm, gesammelte werke 2.2, S. 650). 

Der Beitrag des Soundpoeten Jackson Mac Low wiederum setzt sich mit den klanglichen Aspekten von Sprache auseinander.  Die in FREIBORD abgedruckte Skriptsequenz seines 1984 vom Westdeutschen Rundfunk produzierten Hörspiels REISEN (aufgenommen mit der Multimedia-Künstlerin Anne Tardos und dem Musiker Peter Behrendsen) beinhaltet zeitlich genau festgelegte Pausen. Diese dienten den Sprechenden zur spontanen vokalen Improvisation anhand des Sprachmaterials des jeweils letzten vor einer Pause gesprochenen Satzes (nachzulesen in der ARD-Hörspieldatenbank).
Dass auch die Wiener Aktionisten mit dem Austesten und Überschreiten von Grenzen experimentierten, macht Hermann Nitschs Text zum Orgien Mysterien Theater deutlich. Er beschreibt sein Theater als synästhetisches Erlebnis, das in den Betrachtenden ein »vollsinnliches« Empfinden hervorrufen soll: »ich konstruiere ereignisse, durch welche die zuschauer aufgefordert werden intensiv zu riechen, zu schmecken, zu schauen, zu hören, zu tasten« (S. 31).

An Schnittstellen sind auch andere Beiträge angesiedelt, so etwa an jener von Sprache und Bild: beispielsweise Konrad Balder Schäuffelens »Sprachobjekte«, die Worte ins Plastische übertragen, oder einige dicht von Figuren und Kreaturen besiedelte Tableaus des Wiener Bild- und Sprachkünstlers Dominik Steiger. Friederike Mayröckers Text »wie soll man wissen wann alles begann« –  ein Vorabdruck aus dem 1985 erschienenen Band Das Herzzerreißende der Dinge – nähert sich durch seine assoziative Sprache ebenfalls dem Bildhaften an.
Weitere innovativ-experimentelle, sprachliche, musikalische und künstlerische Grenzen sprengende Arbeiten der vorliegenden Ausgabe stammen von Bernhard Johannes Blume, Henri Chopin, Lily Greenham, Peter Gorsen, Armin Hundertmark, Genro Koudela, Oskar Pastior, Erwin Puls, Dieter Schwarz, Martin Schweizer, Anne Tardos, Luigi Trenkler und Adolf Wölfli.

Passend zum Ende, widmet sich der letzte Beitrag der Grenzziehung zwischen Leben und Tod: Er enthält Bilder einer Grabsteinausstellung und ausgewählte Grabsteinsprüchen, zusammengestellt von Wittigo, und hinterfragt mit einem abschließenden Spruch selbst die Endgültigkeit des Todes: »Wer glaubt, alles sei mit dem Erdendasein vorbei, der irrt, denn merk’s: DIE KLAGE SCHWEIGT, DER GLAUBE SPRICHT / DAS GRAB TRENNT UNS AUF EWIG NICHT.« (S. 118).


Zeitschriftengeschichte auf einen Blick:
Gründung 1976 als »kulturpolitische gazette« (so der Untertitel von Ausg. Nr. 1–10, Nr. 15), die neben literarischen Texten und Beiträgen aus Fotografie und bildender Kunst auch Kommentare und Essays zu zeitgenössischen Problemstellungen und Debatten enthält. Ab den Ausgaben Nr. 17 und Nr. 18 (1979) war FREIBORD verstärkt international ausgerichtet. Der Beginn der 1980er-Jahre markiert außerdem ein vermehrtes Bestreben nach grenzüberschreitendem Arbeiten zwischen den Kunstformen. Dies belegen zum Beispiel Ausgabe Nr. 23 (1981), die sich mit den »Wiener Alternativfestwochen« befasst, sowie die »Fluxus«-Ausgaben Nr. 60 (1987) und Nr. 64 (1988).
Seit FREIBORD Nr. 30 (1982) ist Gerhard Jaschke allein für Herausgabe und Redaktion der Zeitschrift verantwortlich. Ab 2013/2014 erscheint FREIBORD als FERIBORD und FIREBORD: auf A6 gefaltete Leporellos, die sich zumeist einem*r einzelnen Autor*in widmen.

Lena Brandauer (Alte Schmiede)

FREIBORD. Zeitschrift für Literatur und Kunst
Ausgabe Nr. 45, Jg. 10 (1985): GRENZENLOS GRENZENLOS
Herausgegeben von Gerhard Jaschke.

Quellenangaben:
Ruth Esterhammer/Markus Köhle/Fritz Gaigg: Handbuch österreichischer und Südtiroler Literaturzeitschriften 1970-2004. Studien Verlag 2008.
FREIBORD. KULTURPOLITISCHE GAZETTE, Nr. 1 (1976)
FREIBORD. LITERATUR – KUNST – KULTURPOLITIK, Nr. 23 (1981)
Fermin Suter »›O du mein Österreich du bist mein Grab.‹ Die Literaturzeitschrift ›Freibord‹ im Archiv.« In: Laussegger, Armin/Sam, Sandra [Hg.]: Bericht 2018 der Landessammlungen Niederösterreich und des Zentrums für Museale Sammlungswissenschaften. Landessammlungen Niederösterreich. Donau Universität Krems, S. 90–95.
Fermin Suter: »Unsinn machen. ›Freibord‹ und Fluxus«. In: Laussegger, Armin/Sam, Sandra [Hg.]: Bericht 2019 der Landessammlungen Sammelwissenschaften. Landessammlung Niederösterreich. Donau Universität Krems, S. 85– 89.
Markus Köhle: »Freibord. Feribord. Firebord. Eine Positionsbestimmung«. In: EINUNDVIERZIG JAHRE FREIBORD FERIBORD FIREBORD. Hg. von Gerhard Jaschke. 2014.


Am 22. Oktober 2020 war dem Resonanz- und Produktionsraum der Zeitschrift FREIBORD ein Abend der Reihe Gesellschaftsräume der Literatur gewidmet. Gerhard Jaschke, Markus Köhle und Fermin Suter diskutierten, lasen und zeigten Heftbeiträge aus 40 Jahren – eine Videodokumentation der Veranstaltung ist hier nachzusehen.