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kolik spezial: #WasKannLiteratur

Blog, 20. Juni 2020
In der aktuellen «kolik spezial» zum Thema «#WasKannLiteratur» befassen sich Akteur*innen aus unterschiedlichen Bereichen der Literaturproduktion mit den vielschichtigen Funktionen und Wirkungsweisen literarischer Texte.

Als »überaus einfach anmutende, in ihrem inneren Kern jedoch äußerst komplexe Frage«, bezeichnet der Autor Marko Dinić die Themenstellung der vorliegenden kolik spezial. Die Ausgabe ist das Ergebnis eines mehrjährigen Projekts, initiiert vom freien Zusammenschluss österreichischer Literaturhäuser mitSprache, an dem auch die Alte Schmiede beteiligt ist. Es begreift Literaturhäuser als »Begegnungszonen«, in denen die drei Ebenen des literarischen Prozesses aufeinandertreffen: Autor*in, Text und Leser*in. Deshalb wurde die titelgebende Frage in dem dreistufigen Projekt an »möglichst viele Menschen, im Zentrum wie am Rand des Literaturbetriebs« gerichtet, wie die Herausgeber*innen im Editorial schreiben: Auf in den Literaturhäusern aufliegenden Postkarten und dem blog www.mit-sprache.net konnten Leser*innen Antworten auf die Frage formulieren, was Literatur und Lesen für sie bedeute. Einige davon können in der aktuellen kolik spezial nachgelesen werden. Anschließend fanden in den teilnehmenden Literaturhäusern Aktionstage statt, bei denen unterschiedliche Wirkungsbereiche von Literatur diskutiert wurden, und abschließend bat man Autor*innen, Wissenschaftler*innen und Literaturkritiker*innen um Essays zum Thema. Daraus ist ein breites Spektrum an Beiträgen hervorgegangen, die dem privaten, ebenso wie dem gesellschaftlichen und politischen Wirkungspotenzial von Literatur nachspüren.

Lesen will gelernt sein! Die unterschiedlichen Schichten literarischer Texte »erschließen sich nicht von selbst. Sie zu erkennen und zu dechiffrieren ist ein intellektueller, analytischer und zugleich kreativer Akt«, schreibt Veronika Schuchter in ihrem Beitrag. Sie diagnostiziert drei wichtige Funktionen von Literatur: Sie lässt uns in fremde Geschichten eintauchen, sie regt dazu an, uns selbst zu reflektieren und sie fördert narrative Empathie. Diese ist die Fähigkeit, sich in andere Perspektiven einzufühlen – auch in solche, die nicht den eigenen moralischen Vorstellungen oder den gesellschaftlichen Konventionen entsprechen, in welchen man sich bewegt.
Tatsächlich, stellt Sabine Scholl am Beispiel des Geschlechterverhältnisses fest, werden gesellschaftliche Muster in vielen literarischen Werken aber nicht durchbrochen, sondern unhinterfragt reproduziert: »Es ist wie bei dem bekannten Video, in dem die Zuseher aufgefordert werden, die Körbe von zwei Basketballmannschaften zu zählen. Während sie sich auf die fliegenden Bälle konzentrieren, übersehen sie den als Gorilla verkleideten Menschen, der sich übers Spielfeld und zwischen den Spielern bewegt. Eine Wahrnehmungsstörung. Der Gorilla wird erst sichtbar, nachdem die Zuseherinnen und Zuseher darauf aufmerksam gemacht wurden.« Umso wichtiger ist eine Literatur, die die Leser*innen aus ihrer Komfortzone hervorlockt und sie zum »Widerstand gegen Bestehendes und Himmelschreiendes« auffordert, so Evelyne Polt-Heinzl.

Dass stilistisch wie inhaltlich anspruchsvolle literarische Texte Handlungsmöglichkeiten aufzeigen können, argumentiert Jessica Beer. Sie schaffen Räume für die »Vielstimmigkeit von Menschen und Verhältnissen, und zwar Sprach-Räume, die so beschaffen sind, dass die Vielstimmigkeit auch gehört, verstanden und ausgehalten werden kann.« Eine essenzielle Voraussetzung für das Gedeihen einer solchen vielschichtigen und differenzierten Literatur ist politische Freiheit. »Wer [...] die Freiheit der Kunst einschränkt, schränkt die Freiheit der Kritik ein, schlicht die Freiheit des Geistes. Und wer will diese Freiheit einschränken? Natürlich nur die, die etwas davon zu befürchten haben«, so Julya Rabinowich in ihrem Essay. »Literatur kann alles«, ist die Autorin überzeugt. Gleichzeitig ist Literatur aber auch eine »Nichtsmüsserin« (Mascha Dabić). Entscheidend ist das, was mit dem jeweiligen Werk tatsächlich zur Sprache gebracht wird.

In Zeiten vermehrter digitaler Aktivität sorgt das Lesen von Literatur für eine nur allzu notwendige »Entschleunigung des Alltags« (Alfred Pfoser). Außerdem können literarische Werke auch therapeutische Zwecke erfüllen und Halt in lebensbedrohlichen Situationen geben (Doris Schönbaß). Laura Freudenthaler nimmt die Frage als Anstoß, ihre eigene Schreibpraxis und ihr Selbstverständnis als Autorin zu reflektieren, und Nicolas Mahlers Comic-Beitrag setzt die unterschiedlichen Möglichkeiten und Wirkungsweisen der Bild-Text-Beziehung humoristisch in Form eines Gesprächs zwischen Autor und Lektor in Szene.
Dass Literatur nicht nur Inhalte transportiert, sondern durch experimentelles Schreiben auch sprachliche Strukturen und Mechanismen offenzulegen und zu hinterfragen vermag, zeigt Elias Hirschls fingierter wissenschaftlicher Essay über das Ehepaar Franziska Denk und Otto Mandl. Hirschl lässt die beiden Figuren eine dynamische Plansprache namens Litæ entwickeln. Diese orientiert sich an der Struktur der tatsächlich gesprochenen Sprache und bleibt lebendig und wandelbar, anstatt den festgeschriebenen Regeln der Wörterbücher zu folgen.

Der zweite Teil der kolik gewährt Einblick in den Ablauf der Aktionstage zum Thema #WasKannLiteratur in den Literaturhäusern in Graz, Innsbruck und Wien im Rahmen von Impro-Lesungen, Vorträgen oder Diskussionsrunden. Er enthält Texte und Statements von Radka Denemarková, Ilma Rakusa und Josef Winkler u.a.

Allen, die sich tiefgehender mit dem Fragekomplex auseinandersetzen möchten, sei die Ausgabe ans Herz gelegt. Sie werden darin vielfältige Anregungen und Denkanstöße erhalten.

Lena Brandauer (Alte Schmiede)

kolik spezial: #WasKannLiteratur.
Im Namen von mitSprache herausgegeben von Ursula Ebel, Kristin Jenny, Manfred Müller und Johanna Öttl (Februar 2020).
www.kolik.at