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MARINA ZWETAJEWA. Ein Abend nicht von dieser Welt
Den zugehörigen Einleitungstext über Marina Zwetajewa von Juliana Kaminskaja (Text & Regie) können Sie nun im Blog der Alten Schmiede nachlesen.
Mehr Informationen zum Festival finden Sie hier.
Marina Zwetajewa (1892–1941) gilt als eine der bedeutendsten russischen Dichterinnen und verbindet in ihrem Schaffen literarische Einflüsse österreichischer, deutscher, französischer und englischer Tradition. Die Poetik Zwetajewas schlägt Brücken zwischen den Kulturen. Als Tochter der Pianistin deutsch-polnischer Abstammung Marija Meyn und des russischen Philologen Professor Iwan Zwetajew schrieb die Dichterin von Kindheit an Verse auf Deutsch, Russisch und Französisch. Sie stand seit 1926 in intensivem Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke, was im schöpferischen Erbe der beiden Literaten wichtige Spuren hinterlassen hat. Sie beeinflusste das Schaffen Paul Celans, der zum Beispiel als Motto der gesamten »Pariser Elegie« (1961–1963) die vier letzten Zeilen aus dem Antikriegsgedicht Zwetajewas »Германии / An Deutschland« (1939) kyrillisch anführte: »Богемия! / Богемия! / Богемия! / Наздар! // Böhmen! / Böhmen! / Böhmen! / Nazdar!« Wie Marcel Beyer hinweist, half das Russische in Verbindung mit der tschechischen Grußformel »Nazdar« dem Dichter, sein »Böhmen« als ein »durch die Sprachen gegangenes Land«* in den Texten leben zu lassen.
Einen großen Teil ihres Lebens verbrachte Zwetajewa außerhalb des sowjetischen Russlands. In ihren Exiljahren lebte sie in Deutschland, der Tschechoslowakei und Frankreich. Im Pariser Exil in den 1930er Jahren schöpfte sie Kraft aus der Erinnerung an ein kurzes Zusammensein von Petersburger Dichtern im Winter 1916, welche den Schrecken des Ersten Weltkriegs poetische Nähe, Menschlichkeit und Weltoffenheit entgegenstellten. So entstand der kurze Text Ein Abend nicht von dieser Welt, der die Stimmen aus der Vergangenheit wieder hörbar werden lässt und von Ilma Rakusa ins Deutsche übersetzt worden ist. 1939 kehrte Zwetajewa ihrer Familie folgend nach Russland zurück, wo sie ihre Nächsten an den stalinistischen Terror verlor. Am 31. August nahm sie sich in Jelabuga (Tatarstan) das Leben.
Als Opfer der politischen Repressionen wurde Zwetajewa erst Jahrzehnte nach ihrem Selbstmord von breiteren Leserschichten in Russland entdeckt. In der Wahrnehmung der Literatinnen und Literaten gewann sie in der sogenannten Tauwetter-Periode der 1960er Jahre an Bedeutung und wurde dann zu einer der meistzitierten Autorinnen im kulturellen Leben der 1980er Jahre. Eine erstaunliche Popularität brachten manchen Versen Zwetajewas die berühmten Filme des Regisseurs Eldar Rjasanow (1927–2015), darunter die seit 1976 zum unentbehrlichen Teil jedes traditionellen Neujahrsfestes gewordene Komödie Ирония судьбы, или С легким паром / Ironie des Schicksals (1975). Rjasanow war selbst poetisch begabt, schätzte das Werk der Dichterin und ließ den armenischen Komponisten Mikael Tariwerdijew (1931-1996) und seinen russischen Kollegen Andrej Petrow (1930–2006) einige Texte Zwetajewas in Lieder verwandeln. In kürzester Zeit lernten unzählige Zuschauer diese Lieder auswendig, zum Teil ohne den Namen und die Lebensgeschichte der Textautorin zu kennen. 1992 wurde dann auf Initiative einer Gruppe von Enthusiasten – darunter der berühmte Philologe und Denkmalschützer Dmitrij Lichatschow – zum 100. Geburtstag der Dichterin das Marina-Zwetajewa-Museum in jenem Moskauer Haus eröffnet, in dem die Dichterin 1914 bis 1922 gewohnt hatte.
Die Wirkung Marina Zwetajewas auf die spätere Geschichte der russischen Poesie sicherte das Buch Бродский о Цветаевой / Brodsky über Zwetajewa (1997), das ein Jahr nach dem Tod Joseph Brodskys (1940–1996) dessen drei Essays über die Dichterin und sein Interview mit Solomon Wolkow zum gleichen Thema vereinte. Aus dieser Publikation wird deutlich, dass Zwetajewa für Brodsky zur wichtigsten poetischen Stimme des 20. Jahrhunderts geworden war.
Auf diesen und anderen Wegen wurde Zwetajewa zu einer wichtigen Bezugsfigur für die zeitgenössische russischsprachige Poesie. Die in den USA lebende Polina Barskowa (geb. 1976), die in ihrer Dichtung höchst komplexe intellektuelle Gebilde mit Leidenschaft, beinahe Besessenheit und Wut aufscheinen lässt, erinnert sich daran, wie sie anhand von Werken Zwetajewas schreiben lernte. Wera Pawlowa (geb. 1963), die auf mannigfaltige Art in ihrer Lyrik Frauenrollen und entsprechende Klischees reflektiert, liest Gedichte Zwetajewas vor und veröffentlicht damit 2010 ein Audiobuch. Die Dichterin Marija Stepanowa (geb. 1972), die im deutschsprachigen Raum durch ihren Roman Памяти памяти / Nach dem Gedächtnis (2017) bekannt geworden ist, publizierte 2010 einen Aufsatz über Zwetajewa. Jelena Fanajlowa, die für viele ihrer Landsleute in den vergangenen Jahren zu einer der wichtigsten Figuren des poetischen Widerstandes geworden ist, lernte wohl bei Zwetajewa das Protestpotential in der Poesie zu akkumulieren. Sie beteiligte sich 2021 an einer öffentlichen Diskussion zum Schaffen der Dichterin und lässt Zwetajewa im Gedichtzyklus ОнаОнаОнОни / SieSieErSie (2020) als die eigene Doppelgängerin erscheinen.
Juliana Kaminskaja
*Beyer, Marcel: Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan. In: Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Heft 53/54, Paul Celan. 3. Auflage: Neufassung. November 2002. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. Redaktion: Hugo Dittberner, Norbert Hummelt, Hermann Korte u.a., S. 48–65; S. 60.
Juliana Kaminskaja, Dr. phil., Dozentin für Literaturgeschichte und Komparatistik an der Staatlichen Universität St. Petersburg. Gastdozenturen und -vorträge an Universitäten: Zürich, Innsbruck, Freiburg i. Br., Hamburg, Halle (Saale), Trier. Zuletzt in der Wiener edition ch erschienen: VERWANDLUNGEN … Zu Friederike Mayröckers ›Scardanelli‹ und anderen Gedichten, 2021.