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Lyrikfestival Dichterloh 2024: Eine Gedichtefahrt

Blog, 3. Mai 2024
In Gedichten sind Dinge möglich, die auf den ersten Blick unmöglich erscheinen.
In der von Kurator und Moderator Michael Hammerschmid zusammengestellten und kommentierten Gedichtefahrt können Sie ausgewählte Gedichte der auftretenden Dichter*innen vorab lesen. Wir bedanken uns sehr herzlich bei den jeweiligen Verlagen für die Abdruckgenehmigungen der Gedichte.

Kholoud Charaf (6.5.)


Dieses Gedicht spricht eine Einladung aus. Es öffnet sich jemandem. Es spricht von einer Überraschung. Doch ist in ihm die Rede von etwas, mit dem wir uns in der Regel nicht gerne zeigen, von der Traurigkeit. Auch damit überrascht das Gedicht der 2018 aus Syrien mittlerweile nach Deutschland emigrierten Dichterin Kholoud Charaf. Die Traurigkeit »überkommt« das Ich »wie eine Eingebung«. Sie wird nicht abgewiesen. Ihr widerfährt von diesem Ich nicht, was etwa Flüchtlinge in unseren Gesellschaften zu ertragen haben: Abwehr, Misstrauen, Diskriminierung. Das Ich des Gedichts nimmt sich vielmehr Zeit für seinen Gast und bietet ihm Wasser und warmen Salbeitee an:


Die Traurigkeit


Sie überkommt dich wie eine Eingebung 
Mach ihr ein Fenster auf
Putze ihre schwarzen Schuhe
Sprich lange mit ihr 
Die Traurigkeit ist wie der Hunger
sie weiß, wie sie dich verzehrt
Lass sie an deinem Tisch Platz nehmen 
Biete ihr Wasser an
oder schenk ihr warmen Salbeitee ein 
und schau ihr in die Augen
Nimm dir Zeit für sie
Sie ist einsam
Deshalb besucht sie dich.


Gedicht aus ASRAR (dt. »GEHEIMNIS«), Amjad Verlag, Jordanien.
Aus dem Arabischen von Kerstin Wilsch.
2022 veröffentlicht in der Zeitschrift Sinn und Form


Luca Kieser (6.5.)


Vielleicht wünscht sich jede Generation einen zumindest ein bisschen heroischen Begriff seiner selbst? Diesem Wunsch wird in folgendem Gedicht Luca Kiesers eine buchstäblich deftige Absage erteilt. Zwar scheint die beschriebene Generation von Männern, der das lyrische Ich selbst angehört, über einige Möglichkeiten zu verfügen, sich etwa Meinungen leisten zu können oder »zu reisen einfach so«. Trotzdem wird sie bald als nichts Besseres als ein »Haufen Halunken / Halunken mit Hintergedanken« bezeichnet. So locker die beschriebene Generation sich auch selbst sehen möchte, sie offenbart sich in der Schlussszene des Gedichts, die eine gehörige Portion Selbstironie entfaltet, als mehr als angespannt, ja geradezu als tragikomisch verkrampft:


Art Aerosole 3

ich gehöre einer Generation Männern an
die ins Internet hineingewachsen ist
als hätte es Alternativen gegeben
die es sich leistet Meinungen zu haben
geradezu Alternativen
zum Duden oder auch zu ihren Rechten
und die es sich leistet zu reisen einfach so
dabei handelt es sich bei ihr um kaum mehr
als einen Haufen Halunken
Halunken mit Hintergedanken und schüchternen Blasen
die mit doppelter Panik am Pissoir stehen
einer primären nicht pissen zu können
und einer parasitären dass das jemand bemerkt
einer doppelten Panik
an der man sich rasch ansteckt und dann nebeneinander steht
ein Halunke der im Versuch sich zu entspannen
immer doller verkrampft
neben einem der sich abzugrenzen versucht
und deshalb so sehr drückt
dass ihm laut Duden eine Darmblähung entweicht

Luca Kieser: manchmal ist eine tragische Liebe. München: hochroth Verlag 2023, S. 28.


Mira Magdalena Sickinger (6.5.)


In Mira Magdalena Sickingers »UNIO MYSTICA, finale« wird eine zumindest trianguläre Verkupplung verschiedener Ausdrucksformen und Praktiken geschaffen, bestehend aus (mittelalterlicher) Mystik, musikalischem Finale und zeitgenössisch wissenschaftlichem »therapeutic reading«. Gleichzeitig wird diese »UNIO« als körperlich-geistiges Ereignis, ja Wesen, wahrgenommen, um gleichsam über sie hinaus zu kommen: »die welt sehen / schweigen / schweben«. So liest sich das Gedicht als eine mehrfache Transgression: die der mystischen Rede selbst, die der körperlichen Berührung in ihrer Steigerung, die der verschiedenen Diskursformen, ihrer Amalgamierung und ihres Zurücklassens, und all das gesetzt in einen ganz eigenen, alle Gedichte charakterisierenden musikalisch-liedhaften Ton.


UNIO MYSTICA, finale
therapeutic reading

den schweiß ihres intellekts trinken
den geist an ihrer haut schleifen
die zunge in neue richtungen drehen
um ihre laute nachzubilden
aber nicht sprechen können

ihr lied feiernd auflösen
um die bilder zu berühren
wahre und falsche
sie tief eindringen lassen
sie fließend ergießen lassen

sie verstehen
ihre sätze lesen, neunmal
durch sie
über sie hinaussteigen
(die leiter wegwerfen)
die welt sehen
schweigen
schweben


Mira Magdalena Sickinger: FÜR EUCH VERGOSSEN. poesophie. Wien: Klever Verlag 2024, S. 31.


Thomas Kunst (6.5.)


»ICH KONNTE MEINE TOCHTER NICHT ERREICHEN.« So beginnt eines der Sonette aus Thomas Kunsts an lyrischen Formen vielgestaltigem Gedichtband und fährt fort: »Der Aufenthalt am Wasser war zu Ende, / Das Gitterbett stand leer, im Dorf die Strände / Bestanden nur aus Bänken und aus Eichen, // Zentraler Punkt nach Einsätzen, im Freien, / Die Feuerwehr besorgte Bier für jeden, / Die Jungen konnten mit den Alten reden. / Man konnte sich bei allen alles leihen.« Die nüchterne Feststellung des ersten Verses klingt nach in den scheinbar beliebigen Beobachtungen über Strände, die Feuerwehr und das menschlich freundliche Klima unter allen Anwesenden. Es sind diese Gegensätze oder vielleicht besser gesagt, es ist dieses Unvereinbare, das einander dennoch berührt und doch nicht ausgleicht, das diesem Gedicht dazu verhilft, ein Lebensparadox darzustellen. Unbeeindruckt von der Abwesenheit der Tochter geht das Leben in seiner ganz eigenen Tragikomik weiter: »Bezahlt wurde mit Eiern und Getränken. / Nie wieder werde ich von ihr was hören. / Ich konnte sie nicht mehr erreichen.« Und ohne Übergang wird die Abwesenheit der Tochter festgestellt. »Wenn ich was trinke, darf ich an sie denken, / Obwohl ich weiß, das dürfte sie empören. / Im Dorf die Strände suchen ihresgleichen.« Die Sehnsucht nach der Tochter scheint sich gerade im zurückhaltenden Ton auszudrücken, auf dem wie auf Messers Schneide semantisch-klangliche Schwebungen entstehen. Und erst der letzte Vers äußert sich als Metapher, »die Strände suchen ihresgleichen.« 


Thomas Kunst: . Gedichte. Berlin: Suhrkamp Verlag 2024, S. 96.


Frieda Paris (7.5.)


Langgedicht, könnte man zu Frieda Parisʼ NACHWASSER sagen, sagt auch der Text, aber er sagt und fragt vor allem in diesem Sagen und Fragen selbst, was er ist, sein könnte, möchte, sein wird, und so tastet er sich weiter, nämlich einer Gestalt entlang, die offen ist, aber nicht beliebig, und die sich nicht zuletzt der Kindheit der Schreibenden zuwendet und der »Großen Wortmutter«, Friederike Mayröcker. Aber auch uns Leser*innen oder etwa einer geheimnisvollen, aber dem schreibenden Ich ganz vertrauten Vogelgestalt wendet er sich zu und lässt auf diese Weise einen »Text mit Echo« entstehen. Frieda Paris hat ihren Langgedicht-›Essay‹, dessen eigen(tlich)e Bezeichnung sich nur in der jeweiligen Lektüre entfalten kann, in 111 Einträgen zwischen Juli 2022 und Oktober 2023 verfasst. Hier der Eintrag Nummer 6:


6 Exposé 1
: hier schreibt eine Schreibende!

ist das
a eine Überraschung
b erwartbar
c nicht schon wieder

ein Ausrufzeichen an all jene, die mich gefragt haben,
ob ich denn je anders schreiben würde,
als über das Schreiben

nein! ich schließe das Schreiben nie aus, beziehe es ein,
stehe in Beziehung zu meinem Schreiben, ihm gegenüber
wie mich umgebenden Personen

diese Beziehungen bedeuten Hinwendung, Aufmerksamkeit

wobei ich versuchen werde, nicht von meinem Schreiben,
von meinen Worten zu schreiben, sie gehören mir nicht
sie sind da, weil andere vor mir geschrieben haben

Echo zu meine Worte gehorchen mir nicht (Sarah Kirsch)

Mein Vogel, bitte notieren:

Text mit Echo

Friede Paris: NACHWASSER. Berlin/Dresden: edition AZUR im Verlag Voland & Quist, 2024, S. 8–9.


Nico Bleutge (7.5.)


Das folgende Gedicht bringt Nico Bleutges schlafbaum-variationen in gewissem Sinne auf ihren Begriff. Es ist ein Traum-Gedicht, es ist Variation, es ist ein Gesang, ein Trauergesang voll euphorischem Staunen über die Sprache selbst. Fast möchte man an manches Eichendorff-Gedicht denken: Ein Reigen an Binnenreimen tut sich in dem fremdvertraulichen Gebilde auf und trägt es durch die Trauer um den Vater, Fehler spielen angesichts dessen – »mein vater, der / heißt léopold, von hüten / trägt er keine.« – tatsächlich keine Rolle. Hier geht es um mehr, denn es gibt einen Tod zu verschmerzen, aber auch eine Erinnerung zu bewahren und zu formen. So verschmelzen gleichsam für die Dauer des Gedichts Ende und Anfang – die beiden tragenden Pole des ganzen Gedichtbands – zwischen Abschied und kindlichem Singsang magischen Neubeginns:


mein hut hat sieben
enden raum, von sieben
enden keines, vertausch
ich mit dem himmel, kaum
im spiegel seh ich eines

verschweben, fast schon
stäubchen sein, mit in die
wolken geben, wie stehen, läßlich,
hungerklein, uns immer wieder
zählen. mein vater, der

heißt léopold, von hüten
trägt er keine. steht golden
sonne im gesicht, und liegt er,
liegt alleine. ich sehe dich
als schattenriß, der vorhang,

der ist blaue. ein haus
leuchtet im brustkorb auf,
das kannst du mir nicht
stehlen. ich mach dir einen
hut aus gras, aus sieben enden

dreie, aus sieben enden
stücker zehn, die schieb
ich dir ins freie. ich zieh dir
die tapeten ab, die katze, die
ist meine, aus fünfe vier,

die zwei dazu, und eines
wird dir fehlen. ein haus leuchtet
im brustkorb auf, im hut, da
steht der mond. die lunge sieht
nach bäumen aus, die

wollen rückwärts ziehen.
ich male dir aus licht ein ei,
das kästchen kannst du drehen,
die hüte und die spiegel,
die gibt es nun nicht mehr.


Nico Bleutge: schlafbaum-variationen. gedichte. München: Verlag C.H. Beck 2023, S. 50–51.


Sam Zamrik (13.5.)


Zunächst wird in Sam Zamriks selbst aus dem Englischen übersetzten Gedicht einmal abgeräumt mit kulturell so stark besetzten Begriffen wie Mutterleib, Mutterland und Muttersprache. Das sprechende Ich entledigt sich gleichsam der damit assoziierten Zuschreibungen und Einhegungen, und es scheint ihm gerade daraus eine große Freiheit zu erwachsen – »habe keinen / Grund zu streben« –, die es mit tausend und einer Welt und der Sehnsucht nach weiteren und nicht zuletzt einem bestimmten Menschen in eine selbstbestimmte und offene Verbindung treten lässt. Sam Zamrik, gefeierter polyglotter Dichter, ist in Syrien aufgewachsen und lebt seit seiner Emigration mit immer noch ungewissem Aufenthaltstitel in Berlin. Sein Gedicht lässt sich als treffende Antwort auf das titelgebende Wort »Integrationswillig« lesen, jenem gebetsmühlenartig geäußerten Begriff deutschsprachiger Politiker, dem sich hierher flüchtende Menschen offenbar beugen sollen, indem sie ihre eigene Kultur verleugnen. Gedichte, wie jenes Sam Zamriks aber, tun das nicht, sondern entwerfen vielmehr so konkret wie universell zugleich eine eigene freie Kultur menschlichen Ausdrucks:


Integrable 


I come from 
no mother’s womb. 
I come from 
no motherland. 

My mouth knows 
no mother tongue. 
Motherless, haven’t 
a cause for to strive. 

I have a thousand worlds 
and one. I yearn for yet 
one more. 

I want the one 
that lays between 
your golden ears. 


Integrationswillig


Ich komme aus 
keinem Mutterleib. 
Ich komme aus 
keinem Mutterland. 

Meine Zunge kennt keine 
einzige Muttersprache. 
Mutterlos; habe keinen 
Grund zu streben. 

Ich habe tausend Welten und eine. 
Ich sehne mich nach noch 
einer weiteren. 

Ich will die eine, 
die zwischen deinen 
goldenen Ohren liegt. 

(Übersetzt aus dem Deutschen von Sam Zamrik.)


Sam Zamrik: ICH BIN NICHT. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe Engl.-Dt. Aus dem Englischen von Sam Zamrik, Heike Geißler, Sylvia Geist, Björn Kuhligk, Monika Rinck, Ulf Stolterfoht. Berlin: Hanser Verlag 2022, S. 34–35.


Bettina Balàka (13.5.)


Wie funktioniert Glück? Funktioniert nicht, oder schon: Bettina Balàkas Gedichte gehen der doppelten Frage nach, wie sich angesichts der Zurichtungen durch Kriege, ungesunder Selbstbilder von Selbstoptimierung und Erfolg sowie zunehmend bedrückender, wenn auch selbstgeschaffener Gesellschaftsbedingungen, Leben(sglück) leben und (sprachlich) formen lässt. Das folgende Gedicht zoomt gleichsam in den prekären Raum eines Wir, das sein eigenes »Glück« behaupten will und sein Elend dennoch nicht verleugnen kann. Denn es wird »kalt« und »rau« und »das Rascheln der Börse sagt null«.


DAS GLÜCK DER WELT
haben wir uns nicht nehmen lassen

acht Euro fünfzig sagt das Kassengeräusch
das Rascheln der Börse sagt null

neuerdings gibt es in der Stadt wieder Schlangen
anstehen um Essen

Bettler werden angebettelt
für andere Bettler zu spenden

und da stehen wir mit all unserer Bildung
Belastbarkeit, Dynamik und Flexibilität

wenn es kalt wird und rau

schlafen bei Freunden
die uns alles Glück der Welt wünschen

wenn es morgens wieder auf die Straße rausgeht

Bettina Balàka: Die glücklichen Kinder der Gegenwart. Gedichte und Kurzprosa. Innsbruck, Wien: Haymon Verlag 2024, S. 17.


Hannah K Bründl (16.5.)


Hannah K Bründls Langgedicht BODYSHOPPING setzt im Daten- und Wissensdschungel rund um die Frage nach der Verlässlichkeit des (eigenen) als »dys funktional« beschriebenen Körpers ein. Dieser Frage wird mit der Technik der Collage eine Spur gelegt, in der viele Stimmen, nicht zuletzt die einer KI, aber auch die zahlreicher Wissenschaftler*innen, Theoretiker*innen, Denker*innen, Künstler*innen et cetera zu Wort kommen. Was bedeutet es, einen Körper zu formulieren, in einem »versehrten« Körper zu leben, welche Körper-, Lese-, Vorstellungserfahrungen formen und behaupten sich angesichts einer nicht zuletzt weibliche und als weiblich gelesene Körper benachteiligenden Gesellschaft?

Hier ein Auszug des Gedichts _Oktober. invisible bodies, with their fists up aus Hannah K Bründls Lyrikband mother_s:


_Oktober. invisible bodies, with their fists up 

in jeder feige steckt eine tote wespe.


ich sehe auf das stück in meiner hand

auf den saft an der haut entlang

in dieser haut muss ich weiterwachsen 

in dieser hülle wuchern 

        die venen aus und die zähne

ich nehme eine tablette.


in jeder feigenfrucht steckt eine tote wespe      DARF

ES EINE WESPENLEICHE SEIN

EINE WESPENLEICHE FÜR IHREN FRUCHTGENUSS / EIN DÜNGER 

FÜR IHRE ERNTE

ein erschöpfter leib mit gefalteten beinen


ich träume vom grund des wespenkörpers 

ich träume von gliedmaßen bei bewusstsein

von transparenten zellen die sich teilen, teilen und erneuern 

WANN HABEN SIE ZUM LETZTEN MAL 

SCHMERZMITTEL EINGENOMMEN

WANN SIND SIE ZUM LETZTEN MAL AUFGESTANDEN 

OHNE SCHMERZEN ZU EMPFINDEN

die wespenlarve klettert

aus der männlichen feige

WANN IST IHR KÖRPER ZUM LETZTEN MAL GESUND GEWESEN


(…)


Hannah K Bründl: Mother_s. Herausgegeben von Urs Engeler und Christian Filips, roughbook 063. Wien/Schupfart/Berlin: Engeler Verlag 2023, S. 11.


Uljana Wolf (16.5.)

murmeln, brummen, murren, mucken: engl. to mutter
engl. task: Aufgabe, Auftrag, Funktion, Arbeit, Prozess…


Jane spricht im folgenden Gedicht aus dem titelgebenden Kapitel von Uljana Wolfs Gedichtband MUTTERTASK als Mutter, vielleicht Therese, »motherese«, Tarzan und Jane, nein, hier hat eine den »dreh« nicht mehr, auch nicht heraus, weil sich diese mildlautliche Elegese, wie man vielleicht sagen könnte, dem »aweh« des »täglich schrauben[s] / x-mal um putzlige daumen« widmen muss. Und so findet auch die Klage »die abende sind fort / die morgende sind fort« im lullenden Gleichklang eine Art süßsaumigen, -säumigen Trost, als kindliche, gleichwohl aber bewusst gesetzte, künstliche Rede, nämlich Komposition, als die sich auch der ganze Band verstehen lässt: »mussu mut herr / eden.« Eden, den vermeintlich glücklichen Urzustand des Paradieses müsste man her(r)eden können, aber vielleicht sagt das nur ein männlicher Gott, der sich als »Herr Eden« ausgibt? Und doch, etwas gelingt, das Gedicht endet mit »mut hergeredet«. Da ist er, als Gedicht:

jane spricht motherese


muttertask war was mit dreh 
den eine nicht mehr hat war 
aweh war täglich schrauben 
x-mal um putzlige daumen 
war umfassen eingefangen 
nu vot. die abende sind fort 
die morgende sind fort. alles 
geborgene von sich selbst 
nur geborgt. mussu mut herr
eden. so. so. mut hergeredet 


Uljana Wolf: MUTTERTASK. Gedichte. Berlin: kookbooks 2023, S. 16. (= Reihe Lyrik, Band 85) 


Farhad Showghi (21.5.)


In folgendem gedichtartigen Gebilde Farhad Showghis werden unter anderem Lippen geformt, wird der Garten verlassen, wird die Frage gestellt, ob »wir schon lauter werden« und es werden Sätze gebildet, um einige der Kleinstszenen dieses Satz- und Wahrnehmungsgefüges zu nennen, die zusammen einen luziden poetischen Sprach- und Wahrnehmungs-Raum eröffnen. Dieser ist nicht zuletzt dadurch gekennzeichnet, dass jeder Satz, als wäre er eine lebendige Entität, voneinander abgesetzt, seinen eigenen Ort bekommt und seine ganz eigene Perspektive einnimmt. Die Sätze fügen sich zu einer vor unseren Augen entstehenden Sprachskulptur, die sich räumlich-architektural formiert und gleichzeitig geradezu körperlich spricht. Auf diese Weise werden unsere Wahrnehmungsmodi geschärft, befragt und zugleich (weiter aus)gebildet:


Wir bilden Sätze: 


Wir formen die Lippen. 

Wir treten aus dem Garten. 

Ausschnitte von Bäumen werden größer. 

Nehmen sich Zeit von oben. 

Mit weißstreifigem Zuspruch, auch für die Ergänzung, 

Lücke für Mut zu Fichten zu sein. 

Erleichterung spricht uns aus einem Lichtfleck an der Schulter. 

Halbkreise, Kehrseiten haben wir im Rücken. 

Vereinzelt Verwelktes. 

Gesichter mit Flug- und Schwirrverhalten. 

Werden wir schon lauter? 

Haben wir Umgang mit Sachen und freuen wir uns?

In unseren Lungen leichter Aufprall von Dingen, 

die soeben wie Zapfen an Ästen hingen, nah am Geräusch: 

Reste eines Aufrufs, in kleinen Sprüngen. 

Wir bilden Sätze, formen die Lippen, haken nach: 

Wie oft wir noch Schwung kriegen müssen, 

um genau die Leute zu sein, 

die vorhin ganz hinten im Garten waren. 

Wir schwanken zwischen Auftrag, Szene und Wunsch: 

Sodass wir mit Leichtigkeit die Haare zurückstreifen, 

den Kopf senken. 

Es reicht vielleicht, einen Eindruck zu gewinnen, 

nur einen Bruchteil der Hand zu betrachten. 

Nach vorne hin fühlen wir uns an unsere Arme erinnert: 

Auch Mangel will einen Platz einnehmen, 

Rottöne haben, 

mit Grüntönen etwas anderes sagen, 

auf kurzen Wegen zu Wortlaut und Stofflichkeit. 

Spürbar niedrig die Spannung der Straßennamen. 

Fahrgeräusche besehen die Gegend, vor unseren Stimmen. 

Was wird die Haut vom Körper lösen? 

Dortiges in der Nähe von uns? 

Verstummen wir, wenn wir bei einer Arbeit im Zimmer sitzen? 

Wir geben unseren Beinen einen Vorsprung bis hinauf in die Brust. 

Die Voraussetzung muss sich nicht ändern: 

Sie bewegen sich so schnell, dass 

Laub durch uns fällt. 


Farhad Showghi: Anlegestellen für Helligkeiten. Gedichte. Berlin: kookbooks 2021, S. 90–91 (= Reihe Lyrik, Band 77).


Zsuzsanna Gahse (21.5.)


Wir werden zu Mitbeobachtenden in Zsuzsanna Gahses Zeilenweise Frauenfeld, zu Mitdenkenden. Die Spur setzt sich gleichsam aus den Wahrnehmungen des Ich zusammen, die meist in Zeilenpaaren (mit Variation von einer Zeile bis zu einem längeren Absatz) vorgestellt werden. Vielleicht ließe sich der Text als eine Art Sprachtheater beschreiben? Im folgenden Auszug folgen wir einer »schwarz gekleideten Frau«. Die Beobachtung zeigt sich gleichsam selbst, stellt dabei die Soziologie der Bewegungsabläufe in Frauenfeld zur Diskussion oder zumindest zur Mitbetrachtung frei. »Gespräche sind ein Denken mit anderen, meine ich mitunter, / dann wieder nicht, …«:


Eine schwarz gekleidete Frau läuft in der Rheinstraße täglich
mehrmals auf und ab. Entdeckt hat sie Manu.

Sie geht von dem Kreisel bei der Post in Richtung Bahnhofsplatz,
später wieder in Richtung Kreisel zurück und wieder zum Bahn-
hof,

schnell geht sie, gleichmäßig schnell, mit erhobenem Kopf und
einem Blick, als könnte sie ihr Ziel sehen.

Immer hält sie eine schwarze Einkaufstasche in der rechten
Hand.

Weder füllt sich diese Tasche, noch wird sie flacher, vielleicht ist
sie leer.

Die schwarz Gekleidete ist hager. Sie hat tiefschwarze Haare,
wahrscheinlich selbst gefärbt.

Einerseits ist sie außer sich, andererseits verschlossen bei sich.

Alterslos alt geht sie in beide Richtungen, immer mit einem
Tempo, als wäre ihr eine Frist gesetzt, die sie einhalten muss.

Die Idee mit dem Altern könnte man sich abschminken, weil von
der Innensicht her praktisch jeder alterslos bleibt.

Alle Personen stehen auf einem Brett, das sich hebt oder sich zu
heben scheint,

unter dem Brett stapeln sich die vergangenen Jahre, aber das
Brett ist unverändert, obwohl es angehoben wird.

Darüber würde ich mich gerne unterhalten.

Gespräche sind ein Denken mit anderen, meine ich mitunter,
dann wieder nicht,

nicht alle Gespräche wirbeln Überlegungen auf, die jemand
gerade brauchen könnte.

Das Weiterdenken in mageren Zeiten sind Gespräche mit vorge-
stellten Personen.

Vielleicht sind die Mitdenkenden auch sonst nur reine Einbil-
dung,

was jeder rosig finden oder ablehnen kann.


Zsuzsanna Gahse: Zeilenweise Frauenfeld. Wien: Edition Korrespondenzen 2023, S. 40–41.