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programm

Montag, 2. Mai 2022
Universität Wien, I., Universitätsring 1, Stiege I, Hörsaal 33

Péter Nádas

JANDL-POETIKDOZENTUR

2./9./10.5.
ERNST-JANDL-DOZENTUR FÜR POETIK 2022
Zwei Vorlesungen und ein Konversatorium
samt einem Lesungsabend am 5.5.

19:00
Universität Wien, I., Universitätsring 1, Stiege I, Hörsaal 33
Péter Nádas Haydn im Plattenbau 1. Vorlesung
Thomas Eder MODERATION

Der ungarische Schriftsteller Péter Nádas (*1942) zählt ohne Zweifel zu den herausragenden Persönlichkeiten der europäischen Gegenwartsliteratur. Seit 1979 ist er mehrfach zu besonderen Anlässen in die Alte Schmiede nach Wien gekommen. Sein gesamtes Werk umkreist und durchkreuzt unablässig ein zentrales Themenfeld: Erinnerung und Gedächtnis. Nicht nur individuelles Erinnern und Nach-Denken in verschiedenen Ausformungen, sondern auch kollektives Gedächtnis und Erinnern, das sich entlang mythischer und historischer Figurationen stets von neuem formiert, zudem noch die wortlose Erinnerung von Organen und Körpern, für die Menschen aller Generationen und Kulturen stets nach zutreffenden Ausdrucksformen suchen. Diese Erinnerungsarbeit zieht ihre Spur durch vier Jahrzehnte, von Nádas’ erstem Roman Ende eines Familienromans (1977/79) über die Monumentalromane Buch der Erinnerung (1986/91) und Parallelgeschichten (2005/12) bis in den umfassenden »Memoirenband« Aufleuchtende Details (2017), durch die »kleineren« Bücher in den Jahren dazwischen, wie etwa Der eigene Tod (2004), dessen ersten Teil Péter Nádas 2002 in der Alten Schmiede als Wiener Vorlesung zur Literatur vorgetragen hatte. 2018 haben sich ungarische und österreichische Fachleute aus Literatur- und Kulturwissenschaft, Philosophie und Psychoanalyse sowie publizistische und literarische Autoren und Autorinnen in der Alten Schmiede im Rahmen eines Symposiums mit Péter Nádas’ 1.700 Seiten umfassenden Epochenroman Parallelgeschichten befasst, ein dieses Symposium dokumentierendes Buch ist 2020 erschienen.
K. Neumann

Péter Nádas führt in seinen beiden Poetikvorlesungen ins Innere des Schreibens: in einer erlebnisgrundierten Parabel lotet er in Haydn im Plattenbau das Verhältnis seines Schreibens zu dem seines Freundes Péter Esterházy aus, indem er auf Haydn als Komponisten in Diensten der Fürsten Esterházy überblendet. Das Verhältnis zur Puszta, die nicht Leere ist, lässt ihn in der ersten Vorlesung eine stumme Poetik entfalten, bei der das, was nicht auf dem Papier steht und den Aussagen der einzelnen Absätze innewohnt, ebenso wichtig ist wie das, was tatsächlich geschrieben ist. In der zweiten Vorlesung führt Nádas in eine eigenwillige Vorstellung des Schreibens als Beruf ein, was auch das Abgestreifte, nicht Besprochene umfasst, das Weggelassene, Ausgesparte, das dennoch im Text, in seinen Äußerungen anwesend ist. Der Autor fragt und umkreist das in Frage Stehende: »Was passiert mit einem Text, wenn ich Sachen streiche«? Und: »Mit welchen psychischen oder physiologischen Systemen sind meine den Text betreffenden Entscheidungen verknüpft, was für Systeme bilden die Folgen von Entscheidungen. Im guten Fall ist evident, dass diese individuellen Systeme nicht der Text sind, sondern das Muster der inhaltlichen Elemente, also Struktur.«
Eingebunden sind die beiden Vorlesungen von Péter Nádas in die Semestervorlesung von Thomas Eder, die sich mit Fremd- und Selbstdarstellungen von Erlebnisinhalten und Erlebnisweisen in Romanen und Erzählungen befasst. Auch in den Prosawerken von Péter Nádas werden die psychischen Zustände (Empfindungen und Erlebnisse) der Figuren und des Erzählers literarisch dargestellt. Sei es, dass die Zustände und Vorgänge in anderen von einem Erzähler oder einer anderen (Roman)Figur beschrieben werden, sei es, dass die je eigenen Erlebnisse und Empfindungen geschildert werden. Es stehen dabei also mehrere unterschiedliche, aufeinander beziehbare Erlebnisarten und Gestaltungsverfahren auf dem Spiel. In dieses werden auch die Lesenden miteinbezogen, indem ihr Leseerlebnis antizipiert wird: als ob sie selbst das Beschriebene »in actu (legendi)« erlebten, oder als ob sie es selbst erlebt hätten und sich nun erinnerten.
T. Eder

Péter Nádas, *1942 in Budapest, Kind jüdisch-kommunistischer Eltern; früher Tod der Mutter, Freitod des Vaters 1958. Studium der Chemie, Fotograf und Fotoreporter. 1965 erste literarische Veröffentlichung, nach 1969 siebenjähriges Publikationsverbot. Seit 1985 freier Schriftsteller. Mitglied der Berliner Akademie der Künste und der Pariser Académie Européenne des Sciences, des Arts et des Lettres und der Széchenyi Akademie für Literatur und Kunst in Budapest. Er lebt in Budapest und Gombosszeg (Komitat Zala).
Péter Nádas war im Juni 1979 erstmals in der Alten Schmiede zu Gast, 2002 hat er hier zwei Wiener Vorlesungen zur Literatur zu den Themen Behutsame Todesbeschreibung und Behutsame Ortsbeschreibung gehalten. 2018 fand in der Alten Schmiede ein ungarisch-österreichisches Symposium der Eötvös-Lórand-Universität Budapest und der Universität Wien über Nádas’ Roman Parallelgeschichten statt (dokumentiert in Péter Nádas’ Parallelgeschichten. Lektüren, Essays und ein Gespräch. Hg. Gábor Schein und Wolfgang Müller-Funk, narr\francke\attempto, 2020).
Nádas wurde u.a. mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur (1991), dem Kossuth-Preis (1992), dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung (1995), dem Franz-Kafka-Literaturpreis (2003) und dem Würth-Preis für Europäische Literatur (2014) ausgezeichnet.

Ein Gemeinschaftsprojekt mit dem Bundeskanzleramt/Sektion Kunst und Kultur, dem Institut für Germanistik der Universität Wien und der Gesellschaft zur Erforschung von Grundlagen der Literatur