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Ein Brief an Ilse Tielsch
Wien, im September 2024
Sehr geehrte Frau Tielsch,
wir sind uns zeit Ihres Lebens leider nicht begegnet. Wir sind Kolleginnen, ich bin wie Sie Schriftstellerin und wurde vor ein paar Wochen gefragt, ob ich einen Beitrag zu Ihrem Werk verfassen wolle, der Form nach völlig frei, und ich habe Ja gesagt, neugierig wie ich bin, obwohl oder weil ich zu diesem Zeitpunkt kein einziges Ihrer Werke gelesen hatte.
Das beschämt mich zugeben zu müssen, und ich kann nichts zu meiner Verteidigung sagen. Umso mehr freue ich mich, nun mit Ihrem Werk Bekanntschaft gemacht zu haben, denn es war eine große Bereicherung, Sie zu lesen. Und ich muss sagen, ich fühle mich auch ein wenig verwandt mit Ihnen, vielleicht wie eine Art Autorinnenenkelin. Wobei ich immer schnell und leicht Parallelen oder Verwandtschaften zwischen mir und anderen sehe, wo sie andere nicht sehen, also vielleicht würden Sie das gar nicht so empfinden, hätten Sie meine Romane gelesen.
Ich dachte, ich löse die Aufgabe einfach so: Ich berichte davon, was ich bewundere an Ihrem Werk, was ich bemerkenswert finde und adressiere das Ganze als Brief an Sie. Dann spreche ich nicht so sehr über Sie, sondern mit Ihnen. Sie sehen, ich bin also nicht vorgegangen wie die promovierte Literaturwissenschaftlerin, die ich bin und die Sie ja auch gewesen sind – das ist eine der Parallelen, die mir biografisch aufgefallen ist; wir haben beide Germanistik studiert, und wir haben auch beide unterrichtet, Sie an der Schule, ich an der Uni, und waren beide journalistisch aktiv und in der ersten Lebenshälfte nicht nur mit dem Schreiben befasst. Ich bin also völlig unstrukturiert und zufallsgeleitet vorgegangen. Ich habe Ihren Namen gegoogelt, ein bisschen im virtuellen Kosmos herumgeschnüffelt, Bücher bestellt und ausgeliehen und dann einfach losgelesen.
Das erste Buch, das ich von Ihnen gelesen habe, war Ihr letzter Roman, Das letzte Jahr, das 2006 erschienen ist und 2017 von der Edition Atelier neu aufgelegt wurde. Das letzte Jahr hat mich schnell an Lisa Tetzners Kinder aus Nr. 67 erinnert. Ich hoffe, das nehmen Sie mir nicht übel. Lisa Tetzners neunbändige Serie »Erlebnisse und Abenteuer der Kinder aus Nr. 67. Odyssee einer Jugend« gilt als Kinderliteratur. Es war als Mädchen meine Initiationslektüre zum Zweiten Weltkrieg, und um diesen Krieg, um dessen Herannahen, der Ihrer eigenen Kindheit ein jähes Ende bereitet hat, geht es auch in Ihrem Roman. Dieser Krieg – so hat mir meine periphere Internetrecherche erklärt – war der Auslöser für Ihr literarisches Lebensthema: den Verlust von Heimat und die Frage nach der Herkunft und nach dem, was man auch heute noch Identität nennt – ein Wort, von dem ich persönlich nicht nur den Klang nicht besonders mag, ich weiß einfach nach wie vor nicht, was es eigentlich heißen soll.
Vielleicht, so habe ich bei der Lektüre Ihres Romans gedacht, ist die Kinderperspektive die beste, um über Krieg zu schreiben. Weil durch sie die Absurdität jedes Krieges am deutlichsten hervortritt. Das letzte Jahr zeigt das exemplarisch vor, weil es Schritt für Schritt den Weg hin zum Ausbruch dieses Krieges nachzeichnet, scheinbar absichtslos, anhand banaler Alltagsgeschehnisse. Genau das ist für mich die große Kunst von Kinderliteratur: eine einfache und einfach zu lesende Geschichte zu erzählen, in der sich aber sehr viel verdichtet an essentiellem gedanklichem Gehalt.
Kinder sind ja eine schwierige und anspruchsvolle Leserschaft, finde ich. Sie verstehen keine abstrakten Kommentare. Gedanken bloß zu referieren bringt da wenig. Alles muss in Handlung überführt werden, sich in Figuren und deren Konflikte bündeln, und wie in Sagen oder Märchen kommt der Natur besondere Bedeutung zu als mehr oder weniger einziges Reservoir für Metaphern und symbolhafte Ereignisse – wie das Nordlicht, das am Beginn Ihres Romans als böses Omen erscheint –, denn die Naturerscheinungen kann man auch als Kind intuitiv deuten, in die anderen Referenzsysteme wird man hineinerzogen.
Um die zumindest teilweise Absurdität und die beträchtliche Beliebigkeit solcher Referenzsysteme geht es ja auch in Ihrem Roman – wie überhaupt in Ihrem Werk, so ist jedenfalls mein Eindruck, das das Werk einer Skeptikerin ist, einer Persönlichkeit, die vorsichtig hinterfragt und zweifelt, anstatt Gewissheiten nachzubeten, die ihr im Laufe der Erziehungs- und Bildungskarriere eingetrichtert worden sind.
Zumindest für mich geht es in Das letzte Jahr wesentlich auch darum, Kind zu sein, um diesen Wesenszustand, den ich nicht unbedingt mit Unschuld assoziieren würde, sondern eher mit Unbeschriebenheit. Einer Unbeschriebenheit, die eben daher rührt, dass die Werte und Gewissheiten, die wir durch Erziehung in der Familie, der Schule, einer Kirche erwerben, erst erlernt werden. Wenig noch ist in einem Kind an festen Vorurteilen vorhanden, zugleich ist es sehr leicht beeinflussbar. Das wird deutlich in Das letzte Jahr. Wobei der Titel auf die natürliche Vergänglichkeit dieses anfänglichen Bewusstseinszustandes anspielt.
Ich habe mich auch gefragt, warum Sie zu diesem recht späten Zeitpunkt in Ihrem Schreiben – Sie waren über 70, als das Buch erschienen ist –, ich glaube, erstmalig, auf die Kinderperspektive gekommen sind. War es sonst nicht mehr auszuhalten für Sie, das Denken und Schreiben über den Krieg, den Heimatverlust, das Schicksal Ihrer Leute? Oder war es anders herum: Konnten Sie erst zu diesem späten Zeitpunkt in Ihrem Leben über das eigene Kindsein schreiben, nachdem Ihre große Romantrilogie vollendet war, die Ihnen sicherlich viel abverlangt hat an Zeit, Energie, Recherchearbeit und emotionaler Auslieferung und die ja auch die Geschichte des deutschsprachigen Mähren zum Gegenstand hat, von Familie, Vertreibung und Krieg handelt?
Der Exodus aus dem Kinderreich war in Ihrem Fall ja besonders schmerzhaft, früh und abrupt. Ich habe mich bei der Lektüre gefragt, warum Sie nicht ein autobiografisches Buch daraus gemacht haben. Viele schreiben vor allem ab einem gewissen Lebensalter so etwas wie Memoiren. In letzter Zeit ist auch etwas, das man Autofiktion getauft hat, sehr in Mode gekommen. So wie ich es verstehe, ist es im Grunde dasselbe, nur dass man keinen Anspruch auf Wahrheit mehr erhebt, die eigene Person einfach als fiktive Figur empfindet und die anderen realen Personen gleich dazu, um über die sogenannte reale Wirklichkeit mit literarischer Freiheit zu schreiben.
Ich glaube, Sie haben das nie gemacht. Weder haben Sie einen autobiografischen Roman verfasst noch autofiktional erzählt, obwohl sich Ihr Werk stark an Ihrem eigenen Leben, Ihren eigenen Erinnerungen entlang entwickelt haben dürfte, meiner peripheren Recherche nach. Warum haben Sie Figuren und Geschichten erfunden? Warum sind Sie bei diesem klassischen Konzept von Fiktion geblieben? Darüber hätte ich sehr gern mit Ihnen gesprochen, weil mich das selber sehr beschäftigt.
Die Spur einer möglichen Antwort habe ich in einem anderen Ihrer Bücher entdeckt, in Erinnerung mit Bäumen – eine Erzählung mit einem wunderschönen, poetischen Titel, dem man vielen reinen Prosaautoren vielleicht nicht zutrauen würde. Aber Sie waren ja auch Lyrikerin, Sie haben mit Gedichten zu schreiben angefangen, glaube ich.
Erinnerung mit Bäumen wurde 1979 veröffentlicht. Sie waren damals 50. Es ist nach dem Band Mährische Sagen von 1969 und zwei weiteren Erzählungen Ihr vierter Prosaband. Wieder schicken Sie eine Figur auf die literarische Reise, wieder erinnert das Erzählte stark an Ihre eigene Lebenserfahrung. Sie beschreiben in Erinnerung mit Bäumen das Ende des Zweiten Weltkrieges, wieder am Land, aber diesmal in Oberösterreich, auf einem Bauernhof in der Nähe von Kirchdorf an der Krems.
Ich stelle mir vor, dass der Auslöser, der dazu führt, die Erzählung in Gang zu bringen, ein realer war. Vielleicht waren Sie tatsächlich eingeladen zu einer Tagung in der Gegend und sind dann eines Tages vor dem Hof gestanden, auf dem Sie als geflüchteter Teenager aus Mähren das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt haben, wie das Ihrer Figur Anna in Erinnerung mit Bäumen passiert. Es ist der Ort, der Bauernhof, der Annas Erinnerung weckt, nach und nach. Ich mochte sehr, wie organisch, rein assoziativ, sich die Erzählung weiterspinnt. Ich mochte die Leerstellen, das Mosaikhafte der Erinnerungen, der der Figur nach und nach kommen. Und ich mochte auch die Reflexion über das Wesen der Erinnerung, die es in der Erzählung immer wieder satzweise gibt, gerade so viel, dass es die Erzählung nicht stört.
Ich weiß nicht, ob Sie über die menschliche Fähigkeit des Erinnerns, über den evolutionären Zweck von Erinnerung jemals nachgelesen haben. Wenn nicht, dann müssen Sie jedenfalls sehr viel darüber nachgedacht haben, denn ich habe einiges zur Funktionsweise der Erinnerung nachgelesen und kann Ihnen sagen, dass Sie Ihrem Werk nach wirklich eine echte Erinnerungsexpertin sind. Ich hätte gern mit Ihnen darüber gesprochen, wie es Ihnen mit dem Erinnern geht und was es für Ihr Schreiben bedeutet.
Einiges dazu steht ja zum Glück gerade in Erinnerung mit Bäumen. Sie trauen sich selber nicht zu sehr, dachte ich beim Lesen. Ich mir auch nicht. Zugleich wissen Sie, Sie haben nur die Erinnerung, mehr gibt es nicht als das, was sich am Gedächtnisgrund abgelagert hat und was wir immer wieder in Gedanken hervorkramen können und was sich aber jedes Mal, wenn wir das tun, leicht verändert, das ist wissenschaftlich belegt. Erinnerungen mit Fakten gleichzusetzen und damit in dem Rang einer Wahrheit zu erheben, das tun Sie daher nicht. Deshalb vielleicht keine Autobiografie oder Autofiktion.
Erinnerung mit Bäumen hat auch etwas Detektivisches, weil es darum geht, einem Sachverhalt auf die Spur zu kommen, immer tiefer zu bohren. Solche Literatur ist scheinbar einfach gemacht, braucht nicht einmal eine Story, um sich weiterzuentwickeln. Aber sie braucht eine Sprache, die trägt, emotional involviert. Erinnerung mit Bäumen wird – wie andere Erzählungen von Ihnen – von einer sehr lyrischen Prosa getragen, einer bildhaften, präzisen Prosa mit einem besonderen Sensorium für die Natur, zu der Sie wahrscheinlich ein inniges Verhältnis hatten. Denn der Natur kommt in allen Büchern, die ich von Ihnen gelesen habe, signifikante Bedeutung zu – oft auch metaphorische Bedeutung. Im Titel »Erinnerung mit Bäumen« sind die Bäume die Wächter der Erinnerung, dazu fähig, unbeeindruckt von allem, was die Menschen einander antun, jedes Jahr wieder prächtig aufzublühen, wodurch sie mächtiger erscheinen als alles Menschliche. Sie bleiben bei Ihnen auch in der Landschaft zurück, »wenn die Menschen fortgegangen sind« (S. 79), so schreiben Sie. Die Fähigkeit, Natur zu beschreiben oder eher: Natur lebendig in die Erzählung einzubeziehen, und der Stellenwert, den Sie der Natur gegenüber dem Menschen einräumen, macht Ihre Werke für mich übrigens ein wenig auch zu einer Form des Nature Writing.
Erinnerung mit Bäumen ist knapp vor dem ersten Teil Ihrer Romantrilogie publiziert, war also vielleicht für Sie ein erster Versuch, sich heranzutasten an Ihr Lebensthema, an Ihre Fluchtgeschichte und die Schrecknisse des Zweiten Weltkrieges. Die Erzählung hat etwas sehr Intimes. Sie hat formal etwas von einer (Selbst-)Befragung, in der sehr persönliche Momente plastisch und detailliert geschildert werden – etwa der Moment, als auf diesem Hof der Weltkrieg zu Ende geht, verkündet durch amerikanische Soldaten, oder die unerwartete Heimkunft des Bauern aus dem Krieg, der dann wochenlang alle Wände weißt, aber nicht spricht. Wenn eine Erinnerungslücke klafft, bricht die Erzählung ab. Statt Vermutungen finden sich dann Fragen, für immer unbeantwortbare Fragen. Das hat mich vollends eingenommen für den Text. Solche Fragen wirken lange nach im Leser, länger als einfache Gewissheiten, auch wenn sie vielleicht unbequemer sind.
In der gesamten Annäherung an den schwierigen Begriff Identität, an das, was wir mit Herkunft bezeichnen, und an das, wofür es im Deutschen den seltsamen Begriff Heimat gibt, sind vielleicht das größte Kapital Ihrer Texte Vorsicht und Skepsis gegenüber sämtlichen Identitätskonstruktionen und Heimatbegriffen – vielleicht, wahrscheinlich aufgrund Ihrer eigenen Heimatlosigkeit und Ihrer frühen Fluchterfahrung.
Der tiefe Eindruck, den die Werke, die ich von Ihnen gelesen habe, bei mir hinterlassen haben, hat sicher damit zu tun: Sie zeigen einen anderen Umgang mit dem Problem der Identitätsfindung und dem Fluchtschicksal als vieles Heutige. Ich habe in den mir bekannten Texten von Ihnen keine selbstmitleidige Opferpose gelesen, keine selbstgerechten Wehleidigkeiten und auch keine aggressiven Hasstiraden. Es gibt für mich eine gewisse Melancholie und ein Bedauern, würde ich sagen, aber keine Resignation. Contenance fällt mir ein als Wort, Haltung und Würde.
Was es auch gibt, ist ein klarer Standpunkt, aber keine expliziten Verurteilungen. Das finde ich bemerkenswert und klug und wichtig. Und das allein reicht für mich als Grund aus, warum man Ihre Werke auch heute, gerade heute, lesen sollte. Sie haben die wichtigsten Themen von heute alle schon verhandelt. Das war auch so ein frappierender Gedanke während der Lektüre: wie aktuell ein paar Jahrzehnte alte Literatur sehr oft ist und wie wichtig es ist für eine Gesellschaft, diese Literatur wie jede andere Kunst der jüngeren Vergangenheit im Gedächtnis zu halten, nicht ständig immer nur dem Allerneuesten nachzujagen, das oft gar nicht wirklich neu ist, sondern nur ein wenig anders als bereits Bekanntes. Es ist nämlich ein Trugschluss zu glauben, die Themen änderten sich so schnell. Nein, um Flucht, Heimat, Krieg, Identität, Natur ging es auch damals schon. Und vieles, was heute Probleme bereitet, wäre besser zu verstehen, wenn wir den Großeltern – den literarischen wie den realen – wieder besser zuhörten, uns von ihnen berichten ließen. Sehr gern hätte ich Sie daher gefragt, was Sie dazu sagen, wie heute literarisch mit Ihren Themen umgegangen wird. Und auch, wie Sie die gesellschaftliche Entwicklung im 21. Jahrhundert empfunden haben.
Ich kann das nicht tun, aber ich konnte immerhin Texte von Ihnen lesen, die über Sie selbst ein wenig Auskunft geben, über Ihr Schreiben und über Ihre Standpunkte zu gewissen Themen. Der Band heißt Von der Freiheit schreiben zu dürfen und versammelt Dankesreden, Aufsätze und Erzählungen für Zeitschriften, und es hat sich durch diese Lektüre mein – ich weiß, peripherer – Eindruck über Ihr Werk eigentlich nur bestätigt. Es war nichts dabei, was mich überrascht oder irritiert hätte.
Ja, Sie waren eine gesunde Skeptikerin, jedenfalls am Papier. Und Sie dürften niemand gewesen sein, der viel Aufhebens um die eigene Persönlichkeit gemacht hat, sich selber als außergewöhnlich bedeutsam empfunden hat, jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit und auch nicht in den eigenen Texten. Sie waren wahrscheinlich keine echte Diva, sondern eher eine versteckte, heimliche. Sie haben ja auch andere Rollen gehabt als jene der Schreibenden, die Ihnen die »Freiheit, schreiben zu dürfen« im realen Leben immer wieder streitig gemacht haben dürften. Sie waren Ehefrau, Mutter, Hausfrau, Journalistin, Lehrerin, Herausgeberin. Sie haben nicht in einem Elfenbeinturm gelebt, sondern wahrscheinlich eher Ihr Schreiben beschützt in einer Art innerem Elfenbeinturm. Bei mir war das bisher jedenfalls genau so. Das Prekäre daran, beides zu vereinbaren – das literarische Schaffen und ein Alltagsleben, Mutterschaft und Beruf –, ist geblieben und wird vielleicht immer bleiben. Im Grunde stimmt alles noch, was Sie dazu 1989 stilistisch bemerkenswert, nämlich höflich und ohne zu provozieren, aber doch unmissverständlich klar und deutlich, formuliert haben.
Mit einer sehr peripheren Kenntnis Ihres Werdegangs, des Umfangs Ihres Œuvres und ein paar Ihrer Bücher würde ich sagen, Sie haben die zwei Leben, die in der Biologie der Frau angelegt sind, sehr gut nutzen können, jedenfalls dem Ergebnis nach. Sie haben alles rechtzeitig erledigt, haben geheiratet und Kinder geboren, und waren dann, als das weibliche Hormongestöber nachgelassen hat, frei, mit sich am Papier zu ringen. Sie haben recht spät zu publizieren begonnen, mit 35 erschien Ihr erster Lyrikband, aber dann viel und auch lange publiziert. Und Ihre Lebenskenntnis, Ihr reicher Alltag, den Sie zuvor gelebt haben, ist Ihnen dabei wohl zugutegekommen, auch wenn Sie sehr wahrscheinlich damit gerungen haben, dieses soziale Leben geführt zu haben. Es braucht ja immer Stoff, um schreiben zu können. Und nur über Ihre frühe Fluchterfahrung, Ihre Entwurzelung und Heimatlosigkeit haben Sie ja nun nicht geschrieben. Oder anders: Das Thema Heimatlosigkeit hat sich vielleicht mitunter transponiert in Ihrem Werk. Mit Fremder Strand – wieder ein sehr poetischer Titel, in dem auch wieder die Natur auftaucht, stark metaphorisch aufgeladen – haben Sie zum Beispiel eine sehr dichte, poetische Erzählung über die menschliche Einsamkeit geschrieben und die Schwierigkeit, Kunst mit Familie zu vereinbaren, in deren Mittelpunkt eine Frau in der Midlife-Crisis steht, die wieder Ihnen ähnelt – als Ehefrau und Mutter, die aber eben auch zugleich Künstlerin ist oder zu sein versucht.
In Fremder Strand gibt es einen kurzen Vor- und Nachsatz, der eine textliche Klammer um die Erzählung bildet, die für mich vielleicht Grundlegendes über die gedanklich-philosophische Dimension Ihres Schreibens sagt, Sie als Skeptikerin ausweist, aber dennoch Ihre Fähigkeit zeigt, konziliant zu sein. Wissen Sie Ihre Zeilen selber noch? Im Prolog schreiben Sie:
»Wir gingen aufeinander zu. Wir entfernten uns voneinander. Wir stritten uns, wir vertrugen uns. Wir mochten einander nicht leiden, wir konnten einander nicht ertragen, wir zerfleischten uns, wir liebten uns, wir waren glücklich, wir glaubten, vor Unglück sterben zu müssen. Wir lebten, wir haben gelebt, wir leben, wir fürchten uns vor dem Tod, wir trösten uns mit dem Tod. Eines Tages werden wir wissen: Jede Sekunde, die wir erlebten, war eine geschenkte Sekunde, jeder Tag war ein geschenkter Tag.« (S. 6)
Und der Epilog geht so:
»Vielleicht werden wir die letzten der Rätsel lösen, vielleicht werden wir eines Tages wissen, vielleicht werden wir uns selbst vernichtet haben, ehe die Rätsel völlig gelöst worden sind, vielleicht werden wir uns auflösen in einem Rauch, vielleicht wird nur der Stein bleiben und das Wasser, vielleicht wird in der Tiefe der Meere Leben erhalten bleiben, vielleicht wird wieder Leben entstehen, vielleicht wird alles dann schöner, vielleicht wird es schrecklicher sein, vielleicht wird es wieder Menschen geben, die einander verfolgen, hassen und lieben. Vielleicht werden diese Menschen glücklicher sein, vielleicht werden sie unglücklicher sein, als wir es gewesen sind. Wir wissen es nicht.« (S. 125)
Das haben Sie gewusst. Ich kann Sie leider nicht mehr fragen, ob Sie noch wissen, wann Ihnen die Idee kam zu dieser textlichen Klammer, wo genau Sie aufgeschrieben worden sind, ob der Verlag sie womöglich streichen hätte wollen, weil sie, indem sie Grundlegendes sagen, sich exponieren oder ob Ihr Lektor Sie gelobt hat.
Vieles ist nicht mehr zu eruieren.
Aber ich danke Ihnen sehr, dass Sie Ihrem Leben schreibend begegnet sind und Ihr Werk für die anderen als Spur Ihres Selbst hinterlassen haben, und ich wünsche Ihren Werken noch lange Zeit viele Leserinnen und Lesern. Die Auseinandersetzung mit Ihren Texten war für mich beglückend, lehrreich und interessant. Ich hoffe, ich habe Sie mit nichts, was ich geschrieben habe, zu sehr vor den Kopf gestoßen. Ich weiß, man versteht einander doch nie richtig, auch wenn man es sehr möchte, sich bemüht. Zuschreibungen sind etwas Schwieriges, aber doch nicht zu vermeiden. Es war jedenfalls nicht meine Intention, Sie in irgendeiner Weise zu kränken, ganz im Gegenteil.
Seien Sie herzlich gegrüßt dort im Anderswo,
Ihre
Friederike Gösweiner
Text: © Friederike Gösweiner
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