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Anderswelten. Über Dystopien und Utopien

In Zeiten, in denen Lebensräume zunehmend enger werden, stellt die Literatur im Herbst die Frage: wie steht es um unsere Zukunftsentwürfe. Thomas Morus hat seine Utopie vor gut 500 Jahren zwar auf einer fernen Insel angesiedelt, aber bis ins 18. Jahrhundert waren Utopien nur räumlich weit entfernt, nicht zeitlich. Auch wenn das griechische οτπος als Nicht-Ort übersetzt wird: klassische Utopien definierten sich nie nur als gesellschaftliche Wunschträume, sondern waren immer auch mit den Möglichkeiten ihrer räumlichen Realisation verbunden. Dass Utopien in ferner Zukunft angesiedelt werden, ist eine verhältnismäßig neue Entwicklung.

Vor einem knappen Jahrhundert  postulierte der Anarchist Erich Mühsam: »Die Gegenwart soll an die Zukunft keine Fragen stellen, sondern Forderungen!« Ob es Aufgabe der Literatur ist, diese Forderungen präzise zu formulieren, sei dahingestellt. Möglicherweise liegt es ganz einfach an uns LeserInnen, sie aus den jeweiligen Texten herauszuschälen. Ein Roman wie Karin Kalisas Sungs Laden, in dem sie einen mit Hilfe der vietnamesischen Community und dem Zauber ihrer Kultur umcodierten Prenzlauer Berg imaginiert, wo das Zusammenleben plötzlich klappt auf eine Weise, die alle glücklicher macht, ist unübersehbar utopisch in seinem hellen, hoffnungsvollen Gestus.

Georg Klein entwirft in seinem Roman Miakro einen unterirdischen Bürokomplex, in dem man ganztägig eingespannt ist und wo die Arbeiter nach einer Schicht vor den Glasmonitoren, die ihnen Bilder anderer Reali täten zeigen, vom »Nährflur« mit Lebensmitteln versorgt werden und sich anschließend in ihre Schlafnischen zurückziehen.Hier wird die Welt außer- beziehungsweise oberhalb des Büros zur Utopie. Welchen Wert aber hat utopisches Denken, wenn es nicht auf direktem Weg zum utopischen Handeln führt? Ehe die Grenzen in den Köpfen nicht fallen, wird es schwer sein, den Abschottungsfantasien der aktuellen Politik eine konkrete soziale Utopie entgegenzustellen. In erster Linie geht es darum, Anderswelten überhaupt erst wieder denk - möglich zu machen, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen und die Errungenschaften und Erfahrungen der Wirklichkeit hin zum Möglichen zu extrapolieren. Texte wie Joshua Cohens monumentaler, die Welt im Kern hinterfragender Internetroman Buch der Zahlen oder Josefine Rieks’ Debüt über eine Gesellschaft nach dem Internet enthalten keine Anweisungen für die Gegenwart, sondern Anregungen. In Annalee Newitz’ Science-Fiction-Roman Autonom indes arbeiten sich die Menschen mithilfe einer Designerdroge zu Tode. Utopien entstehen auf dem Nährboden der Wirklichkeit. Welche Utopien (und Dystopien) in verschiedenen Gesellschaften entwickelt wurden, ließ immer Rückschlüsse auf die realen Lebensumstände der jeweiligen Zeit zu. Es liegt auf der Hand, dass das Märchen vom Schlaraffenland als Fantasie von Überfluss und Nichtstun in einer Feudalgesellschaft auf anderen Grundlagen basierte als die Traumbilder überdimensionierter Warenangebote in den Regalen und Schaufenstern unserer Massenkonsumwelt. Wie Utopien für das 21. Jahrhundert jenseits kapitalistischer Ausbeutungs- und Verwertungszusammenhänge aussehen könnten, welche Funktion Dystopien angesichts unserer politischen, ökonomischen und sozialen Zustände haben – auch das soll in einem offenen Rahmen bei der Literatur im Herbst debattiert werden. Im utopischen Raum des Wiener Odeons wird dazu Dietmar Dath, der wie kaum ein anderer deutschsprachiger Autor die Möglichkeiten einer Welt jenseits des Ist-Zustandes auslotet, zu hören sein, Luise Meier mit Georg Seeßlen das utopische Potential unserer Gegenwart diskutieren und Jürg Müller mit Ulrike Herrmann und Thomas Gebauer über das Ende der Banken sprechen, um Alternativen zum neoliberalen Weltentwurf zu skizzieren.

Walter Famler, Ilija Trojanow und Jana Volkmann

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