zum festival 2024
DAS ANDERE RUSSLAND II. IN MEMORIAM LEW RUBINSTEIN
Wenige Tage nach Ausbruch des Angriffskrieges auf die Ukraine 2022 verließ der ukrainisch-jüdische Autor Boris Chersonskij, der auf Russisch schreibt, seine Heimatstadt Odessa und floh ins italienische Exil. Zum selben Zeitpunkt führte Viktor Jerofejews abenteuerliche Reise über das Baltikum und Skandinavien in die Emigration nach Deutschland. Sein jüngster Roman Der Große Gopnik (2023) erschien zuerst auf Deutsch und mittlerweile auch im russischen Original; nicht in Russland, sondern in Leipzig. Putins verbrecherischer Krieg führte nicht nur zu Zehntausenden Toten, ein kultureller Raum wurde nachhaltig zerstört – was in Russland den Namen Opposition verdiente, ist heute über die ganze Welt verstreut. Zuhause feiert imperialer Chauvinismus martiale Urstände.
Praktisch alle Teilnehmer*innen der diesjährigen Literatur im Herbst – egal ob Schriftsteller*in oder Journalist*in, Politolog*in oder Literaturkritiker*in – legten ähnliche Wege wie die Genannten zurück. Heute leben sie in Berlin, Tbilisi, Wien, Prag, Jerewan, Amsterdam oder Paris und werden vom offiziellen Russland als »ausländische Agenten« diffamiert. Ihr Selbstverständnis changiert zwischen Exil und Emigration, manche verstehen sich als »Relokanten«, allerdings ist im mittlerweile dritten Jahr von Russlands Krieg gegen die Ukraine die Aussicht auf baldige Rückkehr der Ernüchterung gewichen.
Putins fehlgeschlagener »Blitzkrieg«, der sich mittlerweile in eine langanhaltende Konfrontation mit dem »Westen« insgesamt verwandelt hat, und der mäßige Erfolg westlicher Sanktionen gegen dessen Regime wirft immer wieder auch die Frage nach der Lage in Russland selbst auf: Wie verhält sich die russische Bevölkerung in der Ära des »Kriegsputinismus« (Kirill Rogov) vor dem Hintergrund eines hysterischen Turbopatriotismus? Und wie soll der Westen sich in Zukunft verhalten? Der renommierte Politologe Kirill Rogov, Direktor von Re: Russia, antwortet mit Blick auf die in der Geschichte zyklisch wiederkehrende pro- und anti-europäische Orientierung Russlands und in globaler Perspektive: »Die derzeitige Kehrtwende in der russischen Politik vollzieht sich im Kontext eines globalen ›Komplotts‹ zur Herausforderung der westlichen Führung sowohl durch China als auch durch ein breiteres Spektrum von Ländern des globalen Südens. Die Wahrscheinlichkeit eines neuen Umschwungs in der russischen Politik ist eng mit dem Verlauf und dem Ergebnis dieser Konfrontation verbunden.« Der frühe Reigen an Schuldbekenntnissen aus den Mündern der russischen Intelligenzija ist mittlerweile verstummt, fraglich bleibt dennoch, was kultureller Widerstand gegen Putins Russland bedeuten kann. Auch die Möglichkeit eines künftigen Gespräches mit der ukrainischen »Gegenseite« (das realistischerweise erst nach einem nicht absehbaren Kriegsende stattfinden kann) darf dabei nicht vergessen werden. Unter den Autor*innen der mittlerweile fünften Welle russischer Schriftsteller*innen im Exil (die im 20. Jahrhundert begann und im 21. Jahrhundert sich fortsetzt) finden sich vereinzelt beharrliche Stimmen wie jene des Arztes und Schriftstellers Maxim Osipov, der in Amsterdam die Exilzeitschrift Pjataja wolna (Fünfte Welle) herausgibt. Osipov eröffnet mit einer Rede zur aktuellen Lage russischer Schriftsteller*innen jenseits von Kriegspropaganda und so genannter »Z-Poesie« die diesjährige Literatur im Herbst.
Das andere Russland II ist dem Autor Lew Rubinstein (1947–2024) gewidmet. Der ausführliche Rückblick auf die große Epoche der ›anderen russischen Literatur‹ und des Moskauer Konzeptualismus mit Lesungen von Rubinsteins Weggefährt*innen versteht sich als Ausblick.
Erich Klein