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DAS ANDERE RUSSLAND. Literatur in der Zeit des Krieges

RUSSLANDS Angriffskrieg auf die Ukraine hat alles verändert – auch die russische Literatur! Die Vorwürfe angesichts der grauenhaften Kriegsverbrechen russischer Militärs waren rasch formuliert. Nach Butscha und Irpin sei es – in Abwandlung des bekannten Adorno-Verdikts – unmöglich noch Gedichte zu schreiben. Die Verantwortlichen wurden benannt: russische Klassiker von Puschkin und Dostojewski bis zu Iossif Brodskij hätten mit ihrem imperialen Pathos jene Kultur hervorgebracht, die zum aktuellen Krieg führte. Cancelling russischer Kultur sei das Gebot der Stunde, die Russen sollten schweigen.

Dass die genannten Klassiker von der offiziellen Kremlpropaganda schändlich instrumentalisiert wurden, ist nicht in Abrede zu stellen. Allerdings fand der von außen formulierte Vorwurf auch innerhalb der russischen Intelligenzija großen Widerhall. Dabei ist nicht zu vergessen, dass die vor allem in den sozialen Medien vehement geführten Diskussionen über das imperial belastete Erbe der russischen Literatur nicht erst seit Putins Überfall auf die Ukraine stattfindet. Die gestellten Fragen sind altbekannt: Wer ist schuld? Was tun? Waren Puschkin und Lermontow tatsächlich nur Sänger imperialer Größe, Dostojewski und Tschechow nur Antisemiten? Die Literaturkritikerin und Filmemacherin Anna Narinskaya betont, der Krieg habe aufs Neue ihren Blick auf die Kultur insgesamt und die russische Kultur im Besonderen geschärft; heute sei deren Neubewertung unumgänglich. Noch radikaler formuliert Marina Davydova, Theatermacherin und Autorin, das Problem: »Wenn sich die russische Kultur als unabhängig vom russischen Staat und dem russischen Territorium versteht, kann sie überleben; unabhängig davon ob Russland selbst als Staat überlebt.« Der Philologe Nikolai Epplée, Verfasser des vielfach diskutierten Buches Die unbequeme Vergangenheit über den Umgang mit Staatsverbrechen (nicht nur) in Russland, kommt angesichts von Putins propagandistischem Reenactment des Zweiten Weltkrieges zum bemerkenswerten Schluss: »Die Russen sind nicht länger eine Nation, die die Welt vom Nazismus befreit hat. Wir sind jetzt eine Nation, die die Befreiung vom Nazismus zum Ausgangspunkt einer Entwicklung gemacht hat, an deren Ende ein Regime steht, das einen neuen Krieg in Europa entfesselt hat.« Schweigen wäre angesichts dieser fundamentalen Revision keine adäquate Antwort. Die vierzehn Autorinnen und Autoren der diesjährigen Literatur im Herbst stehen für drei Generationen der zeitgenössischen russischen Literatur. Der als Frage zu verstehende programmatische Titel Das andere Russland erfährt bei ihnen höchst unterschiedliche Antworten. In Viktor Jerofejews neuem Roman Der Große Gopnik findet sich das vernichtende Urteil, Putin sei der erste wahrhafte Präsident des russischen Volkes. Während der Kulturwissenschaftler Alexander Etkind in seinem Buch Russia Against Modernity angesichts globaler Herausforderungen wie Klimakrise und Energiewende eine apokalyptische Zukunft Russlands zeichnet, versteht der Politologe Kirill Rogov die aktuelle Situation auch als fatales Paradoxon: »Dieser Krieg hat auch dazu geführt, dass der Westen zu Putins Mithelfer wurde. Russlands Verbindung mit dem Westen wird heute von beiden Seiten zerstört – von Seiten Putins und von Seiten des Westens.« Einige der mehrheitlich im Ausland lebenden Autor*innen wurden mittlerweile in Russland zu »ausländischen Agenten« erklärt, Dmitry Glukhovsky wurde in Abwesenheit wegen »Diskreditierung der Armee« zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. Für sie alle gilt, was der Dichter Michail Eisenberg schon vor Ausbruch des Krieges prophetisch formulierte: »Wort in den Wind; es wird nicht lebendig / Bis in einem Atemzug ein Korn keimt: / Sag ›Winter‹ und alles ist verschneit. / Sag ›Krieg‹ und du hast es erraten.«

Erich Klein

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