rückblick 2019

Marc Augé: Die Zukunft der Erdbewohner. Literatur im Herbst 2019
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Dilemma 89

Mitteleuropa, Glanz und Elend der Intellektuellen, das Ende von »Links« und »Rechts« oder die Frage nach dem Roman als der literarischen Form Europas – was von prominenten Schriftstellern und Intellektuellen vor 1989 jahrelang diskutiert wurde, schien mit dem Fall des Eisernen Vorhanges und der Berliner Mauer schlagartig weggewischt. Die überraschend wieder in Gang gekommene Geschichte erfuhr eine derartig rasante Beschleunigung, dass paradoxe Ideologeme wie jenes vom »Ende der Geschichte« nicht einmal mehr diskutiert wurden. Es wurde vom Augenschein widerlegt. Seitdem unterliegen dem Mainstream widersprechende Wortmeldungen der Ökonomie der Aufmerksamkeit oder der Logik des Skandals. Postmoderne, Globalisierung, Nachhaltigkeit – ein Schlagwort löst das andere ab. In Sachen Literatur wird jede Saison der Roman der Epoche gekürt, ein Kanon jagt den anderen, dann müssen neue Autorinnen her. Längst sind auch Kältepole des kurzen europäischen 20. Jahrhunderts, Auschwitz und Gulag, zum Gegenstand von internationalem literarischem Trash geworden. Die Klage, in den »neuen« Literaturen Europas würden nur die Kontexte und nicht die Texte gelesen, ist trotzdem nicht angebracht …


Es ist kein Zufall, dass sich ein aus dem Osten stammender, in beiden »Kulturen« beheimateter Autor wie der 1952 im rumänischen Banat geborene Schriftsteller Richard Wagner an große Thesen wagt: In Ceausescus Diktatur aufgewachsen, übersiedelte Richard Wagner 1987 nach Deutschland. Ausreiseantrag (1988) und Begrüßungsgeld (1989) waren paradigmatische erste Buchtitel. »Europa ist größer als die EU«, schrieb der Eröffnungsredner der diesjährigen Literatur im Herbst in seinem Essay Reise in das Innere des Balkan. »Der Himmel ist leer, und der Kontinent quillt über vor unlösbaren Problemen. Europa ist überall und nirgends, es ist Hoffnung und Mythos zugleich, verantwortlich für alles und Sehnsucht dazu. Der Himmel ist leer, und Europa ist sein Ersatz.« Wie sonst als mit den Mitteln der Literatur wäre aber dieser leere Himmel Europas noch zu erfassen?

Literatur im Herbst unternimmt eine Vermessung europäischer Literaturen zwischen Ost und West – die Landkarte darf neu betrachtet werden. An den Gestaden der Ostsee erinnert der Litauer Sigitas Parulskis an seine Ausbildung bei den sowjetischen Luftlandetruppen Mitte der 1980er in Cottbus/DDR. Drei Sekunden Himmel – so der Titel seines Romans – bezeichnen den Moment zwischen Absprung und Öffnen des Fallschirms, markieren aber auch das Grundgefühl einer ganzen Generation nach 1989: Bodenlosigkeit. Ohne alle exotisierende Ostalgie Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki aus, dasselbe gilt für Olga Tokarczuks neuen Roman Unrast. Deutsche Befindlichkeit nach der Wiedervereinigung ist der Gegenstand von drei literarisch höchst divergenten Versuchen: Kurt Drawerts DDR-Roman Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte hebt mit pathetischer Lakenie an: »Wir liebten die Welt unter der Erde.« Daniela Dahns Wehe dem Sieger! Ohne Osten kein Westen lässt den Abstieg des Westens im Moment seines größten Triumphes, des Falles der Mauer, beginnen. Daniela Danz macht in Pontus, einem der erfolgreichsten Gedichtbücher der letzten Jahre, den Schwarzmeerraum, Europas Grenze zu Asien, zum Mittelpunkt ihrer fast neoklassischen Dichtung. Der Prager Romancier Jáchym Topol, einst jüngstes Mitglied der Bürgerrechtsbewegung Charta 77, erweitert den mythologischen Gedächtnisraum seiner burlesken Romane zum 2. Weltkrieg hin. In der unmittelbaren Nachkriegszeit spielt Herta Müllers Atemschaukel, eine Recherche über die Deportation der Rumäniendeutschen ins sowjetische Arbeitslager. Der slowakische Romancier Anton Hykisch weiß sich dem großen europäischen Historienroman verpflichtet, Josef Haslinger einem kritischen Realismus. Das Jahr 1989 stellt auch im ehemaligen Jugoslawien einen Wendepunkt dar: Auf dem Trümmerfeld des südslawischen Kommunismus bahnt sich nach dem Ende des Kalten Krieges die Katastrophe an. Der aus der Vojvodina stammende, ungarisch schreibende Lyriker und Erzähler Otto Tolnai wurde als »Orpheus auf dem Land« charakterisiert, seine Texte als »Anti-Idyllen«. Der serbische Autor Dragan Velikic spürt in seinem Roman Das Russische Fenster den geheimen Verbindungen nach, die den Kontinent zusammenhielten. Boris Chersonskij, russisch schreibender Lyriker aus Odessa, listet im großen Gedichtzyklus Familienalbum die Katastrophen des 20. Jahrhunderts auf.

In Re-Writing History wird der Versuch unternommen, das Verhältnis von Literatur und Geschichte zu beleuchten: Ausgehend von seinem Roman Krieg und Welt spricht der Autor Peter Waterhouse mit der Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Eva Horn über Geheimdienst, Spionage und moderne Fiktion; der Historiker Timothy D. Snyder diskutiert mit Alfred Gusenbauer anhand seines neuen Buches Der König der Ukraine – Die geheimen Leben des Wilhelm von Habsburg Möglichkeiten und Grenzen, Leben in Geschichte umzuformen.

Special Guests der traditionellen Lyrik-Night sind die beiden Jazzmusiker Franz Koglmann und Peter Herbert.

Erich Klein

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