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Jugoslavija revisited

Als im Januar 1990 die slowenischen und kroatischen Delegierten den 14. Kongress des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens verlassen hatten, war damit das Ende einer Epoche besiegelt, der Epoche des jugoslawischen Einparteiensystems und somit auch Jugoslawiens, denn der »Bund der Kommunisten« war von zentraler Bedeutung für die Einheit des Landes. Um die Sozialistischen Föderative Republik Jugoslawien herum war die Welt ins Wanken geraten - zwei Monate zuvor war die Berliner Mauer gefallen und erst die Monate danach zeigten, dass ihre Betonteile die mulitnationale, von der kommunistischen Partei geführte Föderation im Süden Europas besonders hart trafen.

Das jugoslawische Dilemma auf diesem historischen unvollendeten Kongress lautete: Soll die fällige Reform der führenden politischen Kraft im Lande als Zentralisierung oder als Dezentralisierung verlaufen? Kann man diese beiden Möglichkeiten jendseits der nationalen Fragen verhandeln, wo schon die Worte »Zentralisierung« und »Dezentralisierung« nationale Antworten herausfordern? In den frühen Neunzigern positionierten sich die Länder Osteruropas neu - sollte auch Jugoslawien ihrem Beispiel folgen oder auf dem eigenen Sonderweg bleiben, auf dem es unter der Führung Titos in der Vergangenheit zwischen den Blocks laviert hatte?

Was bedeutet überhaupt eine »nationale Frage«? Wann ist sie als progressiv und wann als reaktionär anzusehen? War der jugoslawische Nationalismus, der einst eifrig gefplegt wurde - wer im ehemaligen Jugoslawien erinnert sich nicht an den Ohrwurm »Od Vardara pa do Triglava«, dessen Refrain Jugoslavijo, Jugoslavijo durch das ganze Land hallte - besser oder schlechter als der slowenische, albanische, kroatische oder serbische? Und überhaupt: War Jugoslawien gut oder schlecht? Hätte das Land unter anderen Umständen weiter existieren können? Welche Geister hatte man geweckt, als man Begriffe wie Freiheit, Demokratie oder Reform bemühte, die innerhalb jeder Volksgruppe anders interpretiert wurden? Und wie sollte man sich zueinander verhalten, als weder das Zentralkomitee noch die gemeinsame Erinnerung an Konzerte von Azra, Lačni Franz, Leb i sol und Bijelo dugme, an Gavrilović-Pašteta, an Basketball-Siege, an die Zigarren von Tito oder an den unverwüstlichen Zastava 750, liebevoll fićo genannt, mehr hinreichten, um den Zusammenhalt zu garantieren?

Die Autorinnen und Autoren, die sich bei der diesjährigen Literatur im Herbst versammeln, haben keine fertigen Antworten auf diese und auf die unzähligen anderen Fragen, die der blutige Zerfall Jugoslawiens aufgeworfen hat. Der Komplexität dieser Fragen kann man nur mit einer offenen Vielfalt begenen, mit der parallelen Existenz vieler möglicher Antworten, sowie mit der Bereitschaft, Positionen zu beziehen, ohne dabei dogmatisch und ideologisch verbrämt zu sein.

Dževad Karahasan, der große bosnische Erzähler, Essayist und Dramatiker, hat seine beeindruckende Poetik auf Vielstimmigkeit aufgebaut. Als Kenner der christlichen und der islamischen Tradition hat er die Literatur als seine Heimat bezeichnet und seine multikulturelle Heimatstadt Sarajevo als einen genuinen Ort der Literatur. Wie er, so ist auch die kroatische Autorin lvana Sajko mit dem Theater und seinem Spiel zwischen Illusion und Wirklichkeit vertraut; in ihrem Roman Rio Bar verlaufen verschiedene Monologe parallel, um ein mehrdeutiges Bild der letzten Tage des Krieges in Kroatienentstehen zu lassen. Der Romanautor und ehemalige serbische Botschafter in Wien, Dragan Velikić, baut seine erzählerische Welt auf den einzelnenLebenswegen auf, die sich zwischen Balkan und Mitteleuropa, zwischen Mittelmeer und Nordsee erstrecken und ein feines Netz europäischer Schick­sale bilden. Einstirrte auch der Protagonist des soeben in deutscher Sprache erschienenen Romans Mitternachtsboogie von Edo Popović zwischen Zagreb und verschiedenen deutschen Städten umher - um dann im Epilog des Romans zusammen,mit anderen Vertretern seiner rebellischen und nach Freiheit suchenden Generation in den Schützengräben des Krieges zu enden. Das Echo des Krieges vernimmt der Leser auch in den Texten zweier weiterer junger Autorinnen aus Kroatien: lvana Sirnić Bodrozić und Olja Savičević lvančević sowie des Autors Asmir Kujović aus Bosnien und Herzegowina.

Seit Jahren setzt eine der meist übersetzten kroatischen Autorinnen, Slavenka Drakulić, ihren analytischen Verstand und ihre literarische Empfindsamkeit ein, um auf die Themen des Bösen, der Verantwortung, der Zivilcourage und des Rechts auf eigenes Denken einzugehen. Der slowenische Romancier und Dramatiker Drago Jančar hat in seinen Essays die scharfsinnige Entmythologisierung vieler jugosla­wischer Mythen betrieben. Wie entstanden und was bewirkten solche Mythen? Im Essay zum Thema Erinnerungskultur und zum Verhältnis zwischen der privaten und der kollektiven Geschichte hat sich der kroatisch-deutsche Autor Svjetlan Lacko Vidulić mit eben dieser Frage auseinandergesetzt. Die Wurzeln und das Schicksal der eigenen Familie sind häufig das Herzstück der Erinnerungen, und die Erfahrungen verschiedener Völker, die in Jugoslawien lebten, flossen in die privaten Geschichten ein. David Albahari, der aus einer Familie serbischer Juden stammt, in Kanada lebt und als Autor zahl· reicher Erzählbände und Romane weltweit bekannt ist, hat die Familie zum Zentrum seiner postmodernen literarischen Welt gemacht. Goran Petrović verwendet in seinem Roman Die Villa am Rande der Zeit ebenfalls postmoderne Verfahren, um die untergegangene bürgerliche Welt von Belgrad zwischen den beiden Weltkriegen darzustellen. Beqë Cufaj stammt aus dem Kosovo und pendelt zwischen Prishtina und Stuttgart. Auch er hat seine persönlichen und familiären Erinnerungen literarisch verarbeitet und den Erfahrungen aus dem Bal­kan jene aus der Fremde hinzugefügt, genauso wie Mile Stojić, der seinen bosnischen Erfahrungen jene aus Österreich beigemengt hat. Der Ungarischschreibende und in Serbien lebende Autor László Végel oder die Italienisch dichtende und in Kroatien lebende Autorin Laura Marchig fügen in den sprichwörtlichen bunten Teppich verschiedener Nationen und Sprachen besondere Farben ein.

Der deutsche Journalist Erich Rathfelder hat in seinem neuen Buch Kosovo ein schwieriges Thema bearbeitet; Wolfgang Petritsch und er werden mit Blick von Außen ihren Beitrag zu den Diskussionen leisten. Der Jazz-Gitarrist Darko Jurković aus Rijeka, bekannt für seine Technik des Spielens auf zwei elektrischen Gitarren, ist der special guest der Lyrik Nacht. Wie man einst an der Adria im Sozialismus lebte, zeigt beeindruckend die Ausstellung des aus Split stammenden Fotografen Fea Klarić.

Alida Bremer


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