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Marc Augé: Die Zukunft der Erdbewohner. Literatur im Herbst 2019
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Mare nostrum?

»Wenn wir von menschlicher Vervollkommnung träumen, vom Stolz und Glück der Humanität«, schreibt der französische Historiker George Duby, »dann wendet sich unser Blick dem Mittelmeer zu.« Das Mittelmeer verbindet drei Kontinente, aber an seinen Gestaden prallen Zivilisationen aufeinander. Bei allen Konflikten zwischen Städten, Staaten und Religionen war die Pax Romana der lateinischen Welt die vielleicht längste Friedenszeit in der Geschichte des Mare nostrum. Als Projektionsfläche zwischen Orient und Okzident ist der Mittelmeerraum von wirtschaftlichen Differenzen und gewaltsamen Spannungen geprägt. Laut Bilanz des UNO-Flüchtlingshilfswerkes ist es das tödlichste Gewässer der Welt. Allein im Vorjahr ertranken mehr als 1.500 Migranten und Flüchtlinge im Mittelmeer, das, wie der kroatische Schriftsteller Jurica Pavičić in einem für die Literatur im Herbst verfassten Essay schreibt, eben »nicht nur aus zahmen, bukolischen Landschaften wie der Toskana oder Istrien besteht, sondern auch aus West-Beirut, dem Gaza-Streifen, Homs und Neapel«.

Nach Jugoslavija revisited und Via Donau ist auch die diesjährige Literatur im Herbst nicht einem einzelnen Land, sondern einem größeren geografischen Raum gewidmet und versammelt Autorinnen und Autoren von beiderseits des Mediterrans. Der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, Friedenspreisträger des deutschen Buchhandels und zuletzt in den Schlagzeilen, weil er sich offensiv für den Dialog mit Israel einsetzt, bezeichnet das Mittelmeer als gemeinsames Territorium und magische Zone. Er fordert einen Zusammenschluss aller Mittelmeerländer und kritisiert, dass die Funktionsweise der globalen Ökonomie noch immer eine postkoloniale ist, in der der Norden die Ressourcen des Südens ausbeutet. Mathias Énard hat mit seinem vielbeachteten Roman Zone eine zeitgenössische Illias geschaffen. Sein Achill, Sohn einer kroatischen Patriotin und eines Algerienveteranen, reflektiert auf einer Zugfahrt zwischen Mailand und Rom Kriegsgräuel und Katastrophen, insbesondere die jüngsten Jugoslawienkriege. Aus der bürgerkriegswunden Stadt Beirut kommen Abbas Beydoun und Joumana Haddad. Sie verschmelzen in ihren Texten arabische und europäische literarische Traditionen und sind, wie Ibrahim Abd al-Magid in Kairo, auch als Publizisten von eminenter Bedeutung für das öffentliche Leben in ihrem Heimatland. Kritische Sichtungen aus italienischer Perspektive werden von Davide Longo und Mario Fortunato eingebracht, aus dem großraumpolitisch zentralen Istanbul kommt Asli Erdoǧan. Mit der syrischstämmigen Lamya Kaddor und der Tunesierin Kaouther Tabei nehmen zwei Autorinnen an den Gesprächsrunden teil, die aufgrund ihrer Migrationserfahrungen sowohl die westliche als auch die südliche Sicht aufs Mittelmeer kennen, mit Eyal Megged und Zeruya Shalev konnten wir zwei wichtige Stimmen aus Israel für das Programm gewinnen.

In einem Kommentar zu seinen fotografischen Arbeiten schreibt der Mittelmeerreisende Andreas Fischer: »Europäische Politiker sind sich sicher, stets im Namen der in Nordafrika und Nahost wohnenden Menschen zu handeln, wenn sie deren Leben jeden Tag verändern. Wenn sie Soldaten schicken oder noch nicht schicken, wenn sie Rebellen aufrüsten, wenn sie die Freiheit von Religionsgruppen einklagen oder deren Aktivitäten als potentiellen Terror denunzieren, wenn sie Wahlen für legitim erklären oder für illegitim. In diesem Sinne hat das Mittelmeer Karriere gemacht und sich zum wahren Mare nostrum entwickelt.« Fischers kritische Fotoarbeiten zum Thema sind sowohl im Odeon als auch in der Galerie der Literaturzeitschriften in der Alten Schmiede zu besichtigen. Zwei Filme aus und über den »arabischen Frühling« ergänzen das Lesungs- und Debattenprogramm.

Walter Famler

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