zum festival 2022
Nachhallendes/Nachhaltiges
Wie viele Geschichten und Geschichte tragen wir in uns und wie hinterlassen wir die Welt, in der unsere Nachkommen leben sollen?
Seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wird unter dem in Politik und Medien häufig verwendeten Wort der »Zeitenwende« unter anderem der Wandel in der Außenpolitik einiger westlicher Staaten verschlagwortet (ab 1989 mit der Auflösung der kommunistischen Systeme in Mittel- und Osteuropas). Und in der Klimapolitik wird unter dem Eindruck immer näher rückender Umweltkatastrophen der Ruf nach einer Zeitenwende lauter.
Dass die Krisen unserer Gesellschaften – Demokratie, Klimawandel, soziale Ungerechtigkeit, autoritäre Konflikte – nicht urplötzlich und schlagartig über uns gekommen sind und kommen, sondern sich kontinuierlich und über nationale Grenzen hinweg vergleichbar entwickelt haben, zeigt die aktuelle internationale und deutschsprachige Literatur vielschichtig und vielstimmig.
Die Kontinuitäten totalitärer Systeme in so unterschiedlichen Regimen wie der DDR (Ines Geipel) und der pseudo-utopischen Gesellschaft der Mühlkommune (Wencke Mühleisen) werden ebenso literarisch und essayistisch verarbeitet wie die transatlantischen Vernetzungen nationalsozialistischer Kreise, das Nachleben der Nazi-Elite in Südamerika im 20. Jahrhundert und deren Auswirkung auf die Herausbildung rechtsextremer Diktaturen und die psychologischen Langzeitfolgen auf die Kinder der Exilanten und ehemaligen Widerstandskämpfer*innen (Alia Trabucco Zerán).
Der Nachhall der Systeme ist regional und global zugleich: So verknüpft Karin Harrasser anhand eines collagenhaften Vater-Tochter-Porträts Heimatgeschichte (Kufstein!), bundesdeutsche Nachkriegsgeschichte und bolivianische Geschichte.
Die Synchronisation von Geschichte und Landschaft und die Verwerfungen in beidem verfolgen wir in der Lyrik Marion Poschmanns und Jürgen Nendzas sowie in einer Graphic Novel der spanischen Autorin Ana Penyas.
Ist es möglich, analog zu Klima und Klasse Lyrik und Nachhaltigkeit zu denken? Eine verbindende Sprache von Anarchie und Poesie zu finden? Können notwendige Fragen zur Klimarettung und sozialen Gerechtigkeit (wieder) poetisch formuliert werden? Wir versuchen es, indem wir die Lyriker*innen mit dem Schweizer Historiker und Umweltaktivisten Milo Probst zusammen und ins Gespräch bringen.
Der große italienische Dichter, Publizist und Filmemacher Pier Paolo Pasolini hätte in diesem Jahr seinen hundertsten Geburtstag gefeiert. Viele seiner Texte und Filme sind heute ebenso gegenwärtig wie zur Zeit ihres ersten Erscheinens. In der Matinee am Sonntag beschäftigen wir uns mit (s)einer Jugend im Faschismus sowie seinen nachhaltigen Reflexionen zu Film und Fußball.
Verdrängtes und Verleugnetes geht häufig mit gesellschaftlichem Gedächtnisverlust einher, was der Faschisierung der Gesellschaft in Teilen und im Ganzen zugute kommt. Politische Geschichte findet sich in all den erzählten persönlichen, biographischen und fiktiven Erzählungen und Reportagen wieder. Die Sehnsucht nach historischer Unschuld (Ines Geipel) mag größer werden, die eingeladenen Autorinnen und Autoren widersetzen sich ihr auf unterschiedliche Weisen und erzählen Geschichte und Geschichten, die uns prägen und die nicht nur dafür verantwortlich sind, wie wir unser Leben führen, sondern ob eine lebenswerte Existenz auch für die Nachkommenden möglich sein wird.
Angelika Reitzer