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Norden

»Alles war ein weißes Feld ohne eine einzige Idee.« An Bord eines Eisbrechers, dessen Wissenschafter den Lomonossow-Rücken beforschen, macht sich der schwedische Dichter Gunnar D Hansson an die Beschreibung einer arktischen Poetik. »Das Petrarca-Sonett ist nicht weiter als bis Nordnorwegen gekommen … kaum an die Anforderungen angepasst, die winterliche Dunkelheit an haltbare Versformen stellt.« Als Übersetzer altisländischer und altenglischer Dichtung ist Hansson seit Langem der Nordsee verbunden.

Tomas Venclova, der litauisch-amerikanische Lyriker, dessen Dichtung dagegen oft den großen geografischen und zeitgeschichtlichen Mythen des Ostseeraumes gewidmet war, orientiert sich in jüngster Zeit ebenfalls Richtung »magnetischer Norden«. Weniger kälteempfindlich als das Sonett, hingegen häufig poesiefeindlich waren Missionsarbeiter wie die Herrnhuter. Wenn reisende Prediger unter den Fahnen der Aufklärung in den Norden aufbrechen und dort auf lokale Propheten treffen, sind wir beim dänisch-norwegischen Autor Kim Leine und haben Grönland betreten. Auf der Nachbarinsel Island wartet unterdessen der Dichter Smyrill geduldig wie ein alter Fischer. Statt des erhofften Gedichts fängt er jedoch einen Klang, den Guðmundur Andri Thorsson, motivisch vielfach verflochten, zu einem Erzählreigen formt. Das Dorf Valeyri bereitet sich auf ein Konzert vor. Es ist Mittsommer, die Menschen sitzen vor den Häusern und unterhalten sich. Eine beinahe harmonische nordische Szenerie also. Etwas, vor dem die Protagonistin in Sigrid Combüchens Was übrig bleibt schnellstmöglich Richtung Stadt, nach Stockholm, flieht. Im zugleich in den 1930ern und der Gegenwart angesiedelten Buch der schwedischen Autorin verlaufen die Trennlinien entlang von Klassen- und Geschlechterunterschieden. Nicht nur der ironische Untertitel Ein Damenroman macht deutlich, dass hier literarische Ordnungssysteme auf den Prüfstand gestellt werden. Was übrig bleibt, wenn einer für immer geht, lässt sich für Aris Fioretos ebenso wenig in eine geschlossene, nach vorne entwickelte Erzählung bringen. Der schwedische Autor österreichisch-griechischer Herkunft verdichtet stattdessen Erinnerungen, Thesen und Eindrücke in kurzen Prosastücken zu einem Porträt seines in den Norden eingewanderten Vaters – das den Sohn stets mitporträtiert. Andere Erzählweisen laufen da deutlicher auf ein Ende zu, wie beim Finnen Olli Jalonen, der eine geheimnisvolle Memorial Society zum 350. Geburtstag des Astronomen Edmond Halley einen ungewöhnlichen Wettbewerb ausschreiben lässt: Zwölf Teams sollen von Greenwich aus die Erde entlang des Nullmeridians umrunden. Erlaubt sind lediglich Transportmittel, die auch zur Zeit Halleys bereits zur Verfügung standen. Die Transsibirische Eisenbahn, der zentrale Ort der Handlung in Rosa Liksoms Abteil Nr. 6, wäre also nicht zugelassen worden. Ein Glück, dass sie sich um Konventionen und Regeln wenig kümmert, es wäre uns andernfalls eine der ungewöhnlichsten Zugbekanntschaften der Gegenwartsliteratur verborgen geblieben. In ihrer Eröffnungsrede erzählt die aus dem finnischen Lappland stammende Autorin unter anderem auch von einer Region, deren Bewohner in den 1960ern für etwas Großstadtatmosphäre nicht nach Helsinki, sondern nach Murmansk fuhren – ein Norden also, der auch im Osten liegt.

Verkehrte Geografie? Im derzeitigen politischen Metapherngestöber Russlands mit Länderkonstrukten wie Wladimir Putins »Noworossija« (»Neurussland«), das bekanntermaßen »im Süden« liegt, scheint der Norden keine Rolle zu spielen. Es täuscht! Wer die Bücher des Shooting-Stars der russischen Gegenwartsliteratur, Vladimir Sorokin, genauer liest, wird den Norden und dessen anonyme Weite in jedem seiner Romane als Ort ominöser Vorgänge entdecken: Schamanismus, Hexenglauben, »wissenschaftliche« Experimente, in denen das Land gegen seine Fäulnis in Gefrierzustand versetzt wird. Der Spezialist für un bewusste Kollektivbefindlichkeiten hat den Titel seines letzten ins Deutsche übersetzten Romans nicht zufällig gewählt: Der Schneesturm steht für politische Eiszeit und Wiederkehr der Diktatur. Für einen der prominentesten Autoren der mittleren Generation, Alexander Ilitschewski, der am Kaspischen Meer aufwuchs, bedeutet Russland ohnehin a priori Norden. Schon der Titel seines in Moskau spielenden Romans Matisse verweist auf eine südliche Gegenwelt. Der in Kasan lebende Denis Osokin beschreibt in seiner Kurzprosa (und in seinen Drehbüchern) die Weite des Landes nördlich der Wolga, seine finno-ugrischen Bewohner, die Mari, und ihre Riten des Alltags. In einer gemeinsamen Lesung unternehmen der Dichter und Essayist Michail Eisenberg und die Lyrikerin und Journalistin Jelena Fanajlowa eine kurze Bestandsaufnahme der im literarischen Leben des Landes traditionell bedeutsamen Lyrik. Das dazugehörige Werkstattgespräch versucht eine Antwort auf die Frage zu geben, wo die Dichtung in einem Russland, das sich »back to the USSR« bewegt, derzeit steht und stehen kann.

Norden? Literatur hat last, but not least das Recht, Fragen zu stellen. Etwa: Wie kommt man in den Norden? Oder: Wenn »Norden« eine Metapher ist, wie kommt man von dort zurück? Paul Celan sprach einst von »den Flüssen nördlich der Zukunft« als Vollendung des Antiutopischen. Der in Rom lebende deutsche Dichter Durs Grünbein, in dessen Œuvre immer wieder nördliche Landschaften und Motive auftauchen, umkreist in seinem jüngsten Gedichtband den »magnetischen Nordpol« der Lyrik, den Mond.

Andrea Zederbauer, Erich Klein

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