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Ukraine

Politische und literarische Prozesse verlaufen in seltenen Fällen parallel – Ausnahmen wie die Ukraine bestätigen die Regel. »Das Grenzland« zwischen West und Ost bot sich seit der »orangenen Revolution« der Jahre 2004/2005 nicht nur als flächenmäßig größter Staat Europas an, das Lob der Kritik, das ukrainischen Autoren in den letzten zehn Jahren zuteil wurde, mutet geradezu gespenstisch an. Es grenzt fast an jene »Ukrainomanie«, von der Joseph Roth in den 1920er gesprochen hatte. Kakanische Nostalgie über Galizien und die Bukowina war schon damals nicht mehr angebracht – sie ist es umso weniger, nachdem das »west-östliche Gelände« (Paul Celan) zwischen Don, Dnjepr und Donau in den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts ermordet, zerstört und deportiert wurde. Die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl markierte den Anfang vom Ende der Sowjetmacht, deren tatsächliches Ende zugleich die Chance zum Neubeginn bot. Alles, was bis dahin geschrieben wurde, wurde einfach dem Vergessen überantwortet. Jurij Andruchowytsch, der prominenteste ukrainische Autor, charakterisierte die Situation gleichermaßen selbstironisch wie selbstbewusst als »letztes Territorium«. Für manche ist die Ukraine seitdem das Zentrum Europas.

Der Autor und Übersetzer Jurko Prochasko, Eröffnungsredner der diesjährigen Literatur im Herbst, bezeichnete seine Heimatstadt Lemberg als »leere Muschel, die übrig blieb«. In deren Wendungen und Windungen haben sich neue literarische Zentren einen Namen gemacht: Lemberg, lwano-Frankiwsk, Kiew und Charkow. Jurij Andruchowytsch lässt in seinem jüngsten Roman Geheimnis noch einmal Revue passieren, wie alles begann. Viktor Neborak, an der Epochenschwelle der 1990er Jahre zusammen mit Andruchowytsch Begründer der literarisch einflussreichen Performance- und Possenreißergruppe Bu-Ba-Bu, arbeitet mittlerweile am Mythos vom »Lemberger Text« in der ukraini­schen Literatur. Tymofiy Havryliv beschreibt den Weg zu »seiner Ukraine« als Odyssee. Taras Prochasko und Ostap Slyvynsky bewegen sich abwechselnd auf spekulativem und experimentellem literarischem Terrain. Der in Charkow/ Charkiw lebende Serhij Zhadan kann alles: Wien, das Zentrum der Habsburgermetropole besingt er in einem seiner bislang acht Lyrikbände als Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts, sein letztes Buch Anarchy in the UKR zollt dem Anarchokommunismus im Südosten des Landes Tribut. Die russische Literatur des sprachlich mitunter geteilten Landes wird durch den Satiriker Andrej Kurkow und den Lyriker Igor Pomeranzev repräsentiert – Letzterer tut das mit einem großen Gedicht, das den bezeichnenden Titel KGB trägt. Einen Weg zurück in das »Land der Väter« mit bizarren Zwischenstationen zeichnet der in Boston lebende Askold Melnyczuk in seinem neuen Roman Das Witwenhaus. In die entgegengesetzte Richtung »nach Europa« – im letzten Jahrzehnt der Weg von zwei Millionen ukrainischen Arbeitsmigranten – führt Natalka Sniadanko mit ihrer Sammlung der Leidenschaften. Der Kreis dieser kleinsten Geschichte der neuesten ukrainischen Literatur schließt sich mit Claudia Erdheims dokumentarischem Familien-Roman Längst nicht mehr koscher. Die Wiener Autorin begibt sich ins galizische Drohobycz, woher ihre Vorfahren stammten. Doreen Daume stellt Die Zimtläden, ihre hochgelobte Neuübersetzung des polnischen Klassikers Bruno Schulz vor. Über den Zweiten Weltkrieg und dessen ukrainischen Schauplatz in Wassili Grossmanns Leben und Schicksal spricht die Übersetzerin Elisabeth Markstein. In der traditionellen Podiumsdiskussion, an der u. a. der Autor und Galizienkenner Martin Pollack teilnimmt, wird die, angesichts des jüngsten politischen Erdbebens im Kaukasus, dringliche Frage gestellt: »Ukraine – Zentrum Europas?« Special guest der diesjährigen Literatur im Herbst ist der rumänische Autor Mircea Cartarescu, der aus seinem neuen Buch Warum wir die Frauen lieben liest.

Erich Klein

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