36-40

Klüger // Czernin // Nöstlinger // Torberg // Ransmayr
36
Ruth Klüger

weiter leben (1992)

Gerüstet mit dem Wissen einer Literaturwissenschafterin und den Lebenserfahrungen einer in den USA etablierten Bürgerin und Universitätslehrerin blickt Ruth Klüger zurück auf die Zeit ihrer Kindheit in Wien, die Verschleppung an der Seite ihrer Mutter in die Konzentrationslager des Nationalsozialismus, ihres Überlebens und Entkommens, bis zu den Studienanfängen und das neue Leben in den USA. Daraus ergibt sich eine eigenartige Mischung aus Unmittelbarkeit und rückblickendem Kommentar, für die Ruth Klügers Buch bekannt und gerühmt wurde.   
Redaktion
Mir ist keine vergleichbare Biographie bekannt, in der mit solcher kritischen Offenheit und mit einer dichterisch zu nennenden Subtilität auch die Nuancen extremer Gefühle ... vergegenwärtigt werden.
Paul Michael Lützeler (Neue Züricher Zeitung)

37
Franz Josef Czernin

elemente, sonette (2002)

In seinem neuen Lyrikband elemente, sonette greift er in einem Nachwort auf die Prinzipienlehre des Empedokles zurück, um sein Schreiben zu erklären. Die vier Elemente Erde, Wasser, Feuer und Luft, die Czernin dort in trockener Diktion beschwört, siedeln nah an Mythos und Metaphysik. So nimmt es nicht Wunder, dass sich die großen Dichter der Moderne, d'Annunzio etwa oder Rilke, von diesen schöpferischen Prinzipien begeistern ließen: »Als ob die Elemente Orte darstellten, von denen aus sich das Mythische und das Philosophische oder das Anschauliche und das Theoretische als Momente einer sie umfassenden poetischen Erkenntnis darstellen könnten«. [...] Was Czernin selbst vorschwebt, ist eine Poesie, in der jedes Moment »ein sowohl symbolischer als auch stofflicher Prozess« wäre. Noch im kleinsten Staubkorn des Gedichts könnte sich dann ein Prinzip wie das der Erde verkörpern, während das Stäubchen gleichzeitig in diesem Prinzip aufgehoben wäre. [...] Ein ungeheurer Anspruch steht hinter diesen Gedichten, ein Wille zu Form und Vollständigkeit, der sich exemplarisch im Umgang mit der Sonettform zeigt. Czernin hält das gewählte Versmaß – meist sind es sechshebige Jamben – über alle Texte hinweg so eisern durch, dass zuweilen der alte Verdacht aufblitzen mag, hinter dem Sonett stecke nichts weiter als eine zahlenlogische Spielerei. Doch trotz der formalen Härte schafft es Czernin immer wieder, kunstvoll die Reime zu variieren und den Versen rhythmische Schläge oder Verzögerungen abzugewinnen, die sich auf wundersame Weise mit seiner Sprache verbinden. [...] Dies ist vielleicht das eigentlich Überraschende an der Czerninschen Lyrik: sie entfaltet eine intensive Art von Sinnlichkeit, schwingt und tönt, dass der Leser tatsächlich zum »augen-, ohrenzeugen« werden kann. So wie einst Rudolf Borchardt, den Czernin in einigen Motti sprechen lässt, mit seiner Übertragung der Danteschen Komödie zu einer eigenen, rauhen, gleichermaßen künstlichen wie authentischen Sprache gefunden hat, so entdeckt Franz Josef Czernin auf den Spuren der Vorsokratiker einen eigentümlich atmosphärischen, mal ruppigen, mal sanften Ton der Elemente, in dem sich Archaik und Modernität verbinden. »Ich stelle mir vor, dass Literatur die Expedition in eine Gegend ist, in der ich noch nicht war«, hat Franz Josef Czernin einmal gesagt. Mit seiner poetischen Elementarlehre hat er ein großes Stück Niemandsland erkundet.
Nico Bleutge (Süddeutsche Zeitung)

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Christine Nöstlinger

Iba de gaunz oaman Kinda (1974)

Vier Jahre nach ihrem auf Anhieb sehr erfolgreichen Kinderbuch Die feuerrote Friederike hat Christine Nöstlinger 1974 mit Iba de gaunz oaman kinda ihren ersten Gedichtband veröffentlicht. Darin finden sich viele der Eigenschaften und Haltungen, die für ihr Gesamtwerk charakteristisch sind: den Schwachen und Missachteten des gesellschaftlichen Lebens, zu denen Kinder von alters her zählen, eine eigene Stimme zu verleihen; sich an diese Missachteten zu wenden, für die diese Gedichte sprechen, aber auch an die, die für die Miseren der Kinder meist verantwortlich sind, an die Erwachsenen; deren Probleme werden in aller Offenheit zur Sprache gebracht. Christine Nöstlinger will aufklären, aber ohne jede belehrende oder besserwisserische Pose. Der desillusionierte Grundton, in dem Nöstlinger die Kinder sprechen und denken lässt, als ob es nicht viele gute Gründe zur Hoffnung auf bessere Tage gäbe, geht zu Herzen; und doch versucht die Dichterin mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe, mit Wortwitz, Humor und Geistesgegenwart diese kleinen Heldinnen und Helden des Alltags vor tiefgreifender Resignation zu retten und zugleich bei den Erwachsenen Einfühlung in die oft traurigen Kinderseelen zu erwirken. Darin leuchten Zeichen des gesellschaftspolitischen Engagements und manch subversive Momente auf. Mit Iba de gaunz oaman kinda hat sich Christine Nöstlinger in einem Bereich der Dichtung positioniert, deren Eckpunkte einerseits u.a. von Weinheber und Marzik, andererseits von Artmann, Achleitner, Rühm markiert sind. Nöstlingers Gedichte nützen die besonders von der »wiener gruppe« erarbeiteten neuen Akzentuierungen des Dialektgedichts, behaupten jedoch mehr ein dokumentarisches als ein sprachkompositorisches Anliegen. Mit gut 150 Buchpublikationen zählt Christine Nöstlinger zweifellos zu den produktivsten und einfallsreichsten Kräften der österreichischen Gegenwartsliteratur, dass sie sich an Kinder richtet und für Kinder spricht, schränkt die ungeteilte, allgemeine Gültigkeit ihres literarischen Schaffens keineswegs ein.
Redaktion

39
Friedrich Torberg

Die Tante Jolesch (1975)

Daß Friedrich Torbergs Anekdotensammlung Die Tante Jolesch eine so große Popularität und ein so langes Nachleben beschieden sein würden, ahnte bei ihrem Erscheinen im Jahre 1975 gewiß niemand. Ja, möglicherweise wird das Nachleben der Tante sogar einmal an ihr Vorleben heranreichen. Denn die Tante Jolesch, die ja wirklich gelebt hat und 1932 gestorben ist, stellt in Torbergs Verständnis und Absicht mehr dar als eine reale Person, nämlich einen Typus, der über deren Existenz zeitlich und räumlich weit hinausgeht. »Fast in jeder der großen, vielgliedrigen, über Wien und Prag, über Brünn und Budapest, über die österreichische und die ungarische Reichshälfte verzweigten Familien gab es entweder eine Tante oder eine Großmutter, deren treffsichere, teils witzige und teils tiefgründige Aussprüche von der ganzen Verwandtschaft zitiert wurden.« Der Typus der Tante Jolesch fungiert in Torbergs Erinnerungsbuch an das untergegangene Abendland, nämlich an jenes des jüdischen Bürgertums im alten Österreich, gleichsam als Schutzpatronin über die hier verbuchten lebensklugen, geistreichen, komischen oder kuriosen Einsichten und Aussprüche, die allesamt ein Vorleben haben. An sich und in Torbergs Biographie.
David Axmann
Torbergs Tante Jolesch ist als literarisches Meisterwerk immer relevant. Das allgemein Menschliche wird – wie bei guter Literatur überhaupt – zum exemplarischen Fall, während der historische Kontext der Geschichten letztlich nur als Folie dient. Darüberhinaus stellt sich für die LeserInnen von heute dennoch die Frage, ob und inwieweit sich hinter der wehmütigen, humorvollen und anekdotisch-pointierten Beschwörung eines österreichisch-ungarisch-tschechisch-jüdischen Kulturraums und seiner Atmosphäre etwas »typisch Österreichisches« verbirgt, das für die Identitätssuche und das Selbstbild im 21. Jahrhundert von Bedeutung ist. Und was sagt die Perspektive der 1970er Jahre auf die Vorkriegszeit über die Entwicklung dieses Selbstbildes aus?
Vladimir Vertlib

40
Christoph Ransmayr

Morbus Kitahara (1995)

Christoph Ransmayrs dritter Roman ist eine Dystopie, angesiedelt in einer Topographie des Terrors und der Gewalt, mit zeichenhaften Verweisen auf das Salzkammergut und das verzweigte Lagersystem des KZ Mauthausen. Der »Friede von Oranienburg« diktiert die Voraussetzungen für das Leben nach dem großen Krieg: Rituale der Sühne und des Erinnerns sind eine andere Einübung ins Vergessen, der Landstrich um das Kaff Moor ist Besatzungszone und wird per Verordnung in archaisch-primitive Lebensformen versetzt. Das ehemalige Opfer der Tortur, Ambras oder der »Hundekönig«, wird zum verhassten Aufseher des Steinbruchs Moor, der Sohn des Schmieds, Bering, sein Leibwächter, seine Angebetete, Lily, ist Grenzgängerin zwischen den Zonen und träumt von Brasilien, wo es, mit dem Romanbeginn vorweggenommen, zum tödlichen showdown kommt. Mit verfinstertem Blick beschreibt Ransmayr die geschichtete Geschichte einer zur Umkehr unfähigen Nachkriegsgesellschaft und die »lange Dauer« (natur)geschichtlicher Erosionsprozesse.
Karl Wagner

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66