71-75

Hell // Merz/Qualtinger // Federmann // Haderlap // Mühringer
71
Bodo Hell

Stadtschrift (1983)

Bodo Hell dokumentiert als Fotograf seit Jahrzehnten die in der Stadt gesetzten Schriftzüge und Zeichen, die oft auch dann noch wahrzunehmen sind, wenn sie ihre Funktion als Hinweis auf Geschäfte, Lokalitäten, Wegrichtungen längst verloren haben. So ergibt sich eine Art belebter Vielschichtigkeit von Produktwerbung, Dienstleistungssignalen, spirituellen Impulsen, die den Schriftsteller Bodo Hell anfeuern, Gedankenverbindungen zwischen diesen vielgestaltigen optischen Appellen und allen möglichen kulturellen, zivilisatorischen und religiösen Phänomenen und Vorstellungen herzustellen. Gerade aus der Diachronie und der Dislokation von Zeichen und Bezeichnetem entspringen grotesk-komische und erhellende, gleichsam lebens-archäologische Effekte. Hell experimentiert mit der Lesbarkeit einer Welt, die er diachron und synchron, horizontal und vertikal durchforscht. Er verweist auf Prätexte, arbeitet mit Subtexten, montiert und rhythmisiert seine Materialien, formt aus dem Fundus seiner Archive die Objets trouvés und Readymades zu Text-Clips und Bricollagen in ausgreifenden energetischen Bögen, die er thematisch und motivisch arrangiert. Der Text wird Echoraum im »Dickicht der Verweise«. Deren virtuelle Aneignung erfolgt mittels Parataxe, Modulation und Permutationen. Diskurse und Fremdtext werden in einem Stakkato der Vielstimmigkeit gebrochen, Zeichen und Oralität, Interaktion und Signal werden choreographiert zu Hör- und Schriftbildern.
Martin Kubaczek

72
Carl Merz/Helmut Qualtinger

Der Herr Karl (1961)

Die Ausstrahlung des Monologs Der Herr Karl, der den Prototypen eines gemütlich-brutalen Wiener Opportunisten und Mitläufers des Nationalsozialismus zur Sprache bringt, im November 1961 im österreichischen Fernsehen, löste eine Welle von haltlosen Empörungen, Beschimpfungen und Drohungen aus. Über die Poststellen des Senders ergoss sich eine Flut von aufgebrachten Zuschauer-Protesten. Österreich gab sich entrüstet, fühlte sich beleidigt. Die Stimmung, die damals herrschte, fasste der Kritiker Hans Weigel so zusammen: »Man hatte einem bestimmten Typus auf die Zehen treten wollen, und eine ganze Nation schrie: Au!« Qualtinger und Merz verwendeten das Material des von ihnen ausgelösten Proteststurms für eine Reihe fingierter Zuschriften braver österreichischer Bürger und Opportunisten, die sie in die Buchausgabe des Textes 1962 einfügten. Dass es sich bei dem Stück um ein literarisches Elementarereignis und ein nach wie vor aktuelles Stück notwendiger sozialer Aufklärung handelt, scheint außer Zweifel, die Reaktionen vor 57 Jahren erweisen sich auch im Zeitalter von Wutbürgertum, Hasspostings und Shitstorms so vertraut wie verstörend. Als Vorbilder für die Figur des Herrn Karl haben mehrere Realpersonen gedient, mehrfach wurde u.a. der damalige Inhaber des Journalisten- und Literatenlokals Gutruf, Hannes Hoffmann, genannt.
Redaktion

73
Reinhard Federmann

Das Himmelreich der Lügner (1959)

Reinhard Federmann (1923–1976) war lange Zeit ein von der Literaturwissenschaft verdrängter Autor. Nicht nur, dass er ein äußerst heterogenes Werk hinterlassen hat – Unterhaltungsromane und Witzesammlungen finden sich dort ebenso wie engagierte Zeitromane und Anthologien politischer Texte –, hat er auch Anfang der 1970er-Jahre im Streit zwischen dem konservativen PEN-Club und der Grazer Autorenversammlung heftig gegen Jandl, Jelinek und die Avantgarde polemisiert. Damit war sein Image als altmodischer, ja reaktionärer Autor gefestigt und man unterließ es, sich mit seinen Texten zu beschäftigen. Dabei gibt es dort einiges zu entdecken, zuallererst seinen 1959 veröffentlichten Roman Das Himmelreich der Lügner. Dieser passt freilich nicht in die gängigen Vorstellungen der frühen österreichischen Nachkriegsliteratur, in der es angeblich keine adäquate literarische Aufarbeitung von Faschismus und Krieg gegeben habe. Dieses Klischee widerlegend entwirft der Roman einen Längsschnitt der österreichischen Geschichte zwischen 1933 und 1956, setzt sich ausführlich mit dem Februaraufstand 1934 auseinander, mit Nationalsozialismus, Stalinismus, Holocaust und Kaltem Krieg. Ein Grundbuch der österreichischen Literatur also, auch wenn es bis vor kurzem von Germanistik und literarischer Öffentlichkeit ignoriert worden ist.
Günther Stocker

74
Maja Haderlap

Engel des Vergessens (2011)

Maja Haderlaps Rekonstruktion ihrer Dorf- und Familiengeschichte ist die literarisch präzise Ethnographie einer slowenisch-kärntnerischen Kindheit im Zeichen von Tortur, Verfolgung und Widerstand. Ohnmacht, Selbstzerstörung und Stolz des Widerstands gegen den Nationalsozialismus und die fortgesetzten Erniedrigungen im Alltag nach 1945 zeigen sich durch eine Arbeit an der Sprache, die den Sprechmustern von Opfern und Tätern auf den Grund geht. Ein Grundbuch also auch für die literarische und politische Alphabetisierung Österreichs, traurig, zornig und zart. In der langen Gattungsreihe der österreichischen Provinz-Romane mit scheiternden männlichen Protagonisten ist Engel des Vergessens schließlich ein später »Selbstversuch« darüber, wie man als Frau unter solchen Diskriminierungen überhaupt zu einer Bildung kommen kann.
Karl Wagner

75
Doris Mühringer

Es verirrt sich die Zeit (2005)

Die Seelenhaare helfen mir dabei, Doris Mühringers Worte zu erspüren; die, welche ihr wichtig waren. Tiere sind auch dabei, Eulen, Schafe, Vögelein, ein Kalb. Eine braune Schlange. Der Mond, den alle Dichterinnen betrachten, hat bei ihr einen Wanst. Und die Menschen werden gegessen, von Würmern und Mäusen und einander ... Doris Mühringer, so scheint mir, verbietet sich keinen Gedanken. Aber sie schreibt nicht alle auf. Sie überlässt es den Seelenhaaren der Leserinnen und Leser, sie aufzuspüren. Kleiner Mensch/feig wie die Muschel/du entgehst deiner Freiheit nicht. Ihre (für mich) intensivsten Gedichte beziehen sich auf Geschehnisse im 2. Weltkrieg, genauer, das Sterben im 2. Weltkrieg, das Versehrtwerden für immer, auch derjenigen, die ohne körperliche Verletzung weiterlebten. Die Dichterin wehrt sich dagegen mit rotzfrechem Humor und absurden Versen.
Andrea Grill

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66