31-35

Lipuš // Herbeck // Frischmuth // Canetti // Bauer
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Florjan Lipuš

Zmote dijaka Tjaža/Der Zögling Tjaž (1972)

Florjan Lipuš’ Romandebut, 1981 in deutscher Übersetzung von Peter Handke und Helga Mračnikar veröffentlicht und anlässlich des 60. Geburtstags des Autors 1997 im Wieser Verlag neu aufgelegt, handelt vom Internatsschüler Tjaž, Sohn eines Holzfällers und einer Magd, der nicht in die ihm vorgegebenen Ordnungen passt. Tjaž ist ein Winzling, er kratzt an Heiligen, Obrigkeiten, Vorgesetzten, aber auch Mitschülern die Nägel aus den Schuhsohlen. Die relegierte Nini liebt er aus Trotz und Widerspruchsgeist und wird von ihr ver- sowie aus der Schule entlassen. Daraufhin stürzt sich Tjaž von der Kaffeehausterrasse. Der Roman wird aus der Perspektive eines Mitschülers erzählt: »Begraben haben wir ihn knapp an der Friedhofsmauer. [...] als man den Tjaž in die Grube hinabließ, tauchte aus der Kurve eine Lokomotive auf, die eine Reihe von Waggons hinter sich herzog, beladen mit Schlachtvieh... Zuerst traf uns bis ins Eingeweide die Musik der runden Messer, die unter dem Gewicht der Rinderkörper so stark auf die Gleiskörper drückten, daß durch das Eisen ein Aufstöhnen ging. ... [Und dann] geschah das Ärgernis mit dem Sarg. Entweder war er zu groß und die Grube war zu klein, oder ... die Erde hatte [...] das Maul verkniffen, das sie zuvor noch sperrangelweit offenhielt.« (Der Zögling Tjaž, S. 320ff.)
Redaktion
Der Zögling Tjaž ist eine österreichisch-slowenische Variante der Blechtrommel, in der gegen die bestehenden Verhältnisse (und zwar jene einer katholischen Erziehungsanstalt) nicht lautstark angetrommelt, sondern – im Wortsinn – still und heimlich »angekratzt« wird.
Klaus Kastberger
Keinem Werk der slowenischen Literatur in Kärnten kommt eine so große Bedeutung zu und wurde ein solches Interesse zuteil wie dem 1972 erschienenen Roman Zmote dijaka Tjaža von Florjan Lipuš, der 1981 unter dem Titel Der Zögling Tjaž in der Übersetzung von Peter Handke und Helga Mračnikar auch auf deutsch herauskam. Als Metapher des widerständigen Subjekts und zugleich als Manifest literarischer Modernität einer bis dahin international kaum bekannten Regionalliteratur wurde dieser Text zu einem ästhetischen Monument seiner Kultur, zu einem literarischen Mythos, ohne darin zu erstarren. Es ist die Intention auf die Sprache, die ihm sowohl seinen ästhetischen wie auch seinen gesellschaftlichen und politischen Stellenwert gibt. 
Johann Strutz

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Ernst Herbeck

Im Herbst da reiht der Feenwind. Gesammelte Texte 1960-1991 (1992)

Primarius DDr. Leo Navratil, dessen beharrlichen Aufforderungen das gesamte literarische Werk Ernst Herbecks zu verdanken ist, berichtete u.a.: Bei einer Visite auf dem Haschhof bat ich Herbeck einmal in das Untersuchungszimmer, legte einen kleinen Zeichenkarton vor ihn hin, reichte ihm meinen Kugelschreiber und sagte: »Bitte Herr Herbeck, schreiben Sie ein kurzes Gedicht mit dem Titel ›Der Morgen‹!« Ich saß neben ihm. Herbeck schrieb: ›Der Morgen‹ und dann mit Unterbrechungen: Im Herbst da reiht der / Feenwind / da sich im Schnee die / Mähnen treffen. / Amseln pfeifen heer / im Wind und fressen.
Ich weiß nicht, wie ich auf die Idee gekommen bin, Herbeck ein Gedicht schreiben zu lassen. Nun lag plötzlich etwas vor mir, das nicht bloß psychopathologisch zu verstehen war; es war ein wirkliches Gedicht.

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Barbara Frischmuth

Die Mystifikationen der Sophie Silber (1976)

Die Mystifikationen der Sophie Silber eröffnen die »Sternwieser-Trilogie« von Barbara Frischmuth, in der es um die Bedingungen des Menschseins und der Menschwerdung geht. Der Schauplatz ist phantastisch und real zugleich – ein Kongress, auf dem sich Feen und Wassermänner, der Alpenkönig und die Schauspielerin  Sophie Silber treffen. Wie lässt sich das Leben in seiner weiblichen Form gestalten? Diese Frage wirft der Roman auf und er beantwortet sie seiner literarischen Form: Als Metamorphose der Traditionen, als Fortschreibung und Neudeutung der Mythen und Märchen, als Inszenierung eines lustig-listigen Theaters und als Versuch, das Leben und die Wirklichkeit als phantastische zu begreifen.
Elke Brüns

34
Elias Canetti

Masse und Macht (1960)

Es gibt wenige Bücher des zwanzigsten Jahrhunderts, die das Wesen von Macht und Masse so tief erschlossen haben, wie der Band von Elias Canetti, der genau vor einem halben Jahrhundert erschienen ist. Die beiden, für das Jahrhundert höchst wichtigen Begriffe erforscht der Autor mit Hilfe von unterschiedlichen Disziplinen: Anthropologie und Ethnologie spielen dabei eine ebenso wichtige Rolle wie Soziologie, Geschichte oder eben Politologie. Dennoch ist es keine wissenschaftliche Monographie wie auch keine systematische Aufarbeitung dieser beiden Begriffe. Es ist eher ein Essay im klassischen Sinne; mit Hilfe von Analogien aus der gesamten dokumentierten Geschichte der Menschheit plädiert Canetti mit Leidenschaft für eine Überschreitung jener Schranken, die im modernen Zeitalter unsere Aussicht auf die metaphysischen Grundlagen der menschlichen Existenz verschlossen hatten. Ohne diese Aussicht aber droht die Gefahr, dass die gesamte humane Existenz den Bestimmungen von Macht und Masse unterworfen bleibt. Ein Buch, das aufklärt, ohne dass es dabei irgendeiner Ideologie zum Opfer fiele.
László Földényi

35
Wolfgang Bauer

Magic Afternoon (1968)

Der Grazer Dramatiker, Lyriker und Erzähler Wolfgang Bauer (1941-2005) feierte 1968 mit dem Einakter Magic Afternoon seinen ersten großen Erfolg. Darin zeigt er zwei Männer und zwei Frauen zwischen 22 und 30 Jahren, »drop outs«, die sich von der »Welt der Erwachsenen« abgeschlossen haben, Geschäftigkeit und Leistungszwang als Werte nicht mehr anerkennen wollen, aber selbst auch keine neuen Werte zu schaffen im Stande sind. Was sie erleben wollen, »was Aufregendes«, können sie nicht finden. Was ihnen bleibt, ist nur ein Nachleben jener Welt, die der Spätkapitalismus zu bieten hat: Sex, Haschisch, Schallplatten, Porno- und Horrorfilme. Im inhaltslosen Leben und gegenseitiger Fixierung dieses Quartetts entwickeln sich Aggressionen, die schließlich zum Totschlag führen.
Redaktion
Nicht nur in diesem hochdramatischen Schluß besteht die Leistung der frühen Stücke Bauers. Sie besteht in der Präsentation auch des Absichtslosen. Des Beiläufigen, dessen, was so geschieht, was uns begleitet, was keine symbolische Bedeutung hat. Hier knüpft Bauer – wie Handke beobachtet hat – eben an die Tradition eines Horváth an.
Wendelin Schmidt-Dengler in Bruchlinien, 1995

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66