41-45

Haushofer // Turrini/Pevny // Streeruwitz // Jandl // Améry
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Marlen Haushofer

Die Wand (1963)

Im Roman Die Wand greift die Autorin Marlen Haushofer einmal mehr auf die Szenerie ihrer Kindheitswelt zurück. Die Geschichte einer Frau, die sich nach einer mysteriösen Katastrophe durch eine durchsichtige Wand von der Zivilisation getrennt sieht und sich mit Hund, Katze und Kuh im Wald durchschlagen muss, polarisierte bei ihrem Erscheinen 1963 im Mohn-Verlag die Kritik. Edwin Hartl bezeichnete das Buch als »vermutlich die originellste Utopie der modernen Weltliteratur: weil sie es wagt, auf alles ›Originelle‹ zu verzichten«. Hans Weigel verglich es mit Albert Camus’ Die Pest und Daniel Defoes Robinson Crusoe. Im Gegensatz zu Haushofers übrigen Heldinnen gelingt der Ich-Erzählerin der Wand tatsächlich die Befreiung von gesellschaftlichen Fesseln – freilich um den Preis der Ausrottung der Menschheit. Die männliche Welt der Aufrüstung, die die »Wand« hervorgebracht hat, wird (von der Autorin) mit alttestamentarischer Härte bestraft. Die Wand ist eine Parabel der Existenz, aber auch eine Reaktion auf den Kalten Krieg.
Redaktion
Marlen Haushofers Robinsonade erzählt vom durch eine Katastrophe erzwungenen Rückzug einer Frau aus dem zivilisatorischen Zusammenhang der Stadt in einen ahistorischen Naturraum. Die Wand enthält ein gerüttelt Maß an Aggression gegen die von Männern propagierte Rüstungs-, Fortschritts- und Konsumideologie der Wirtschaftwunder-Zeit, in der Haushofer sich fundamental fremd fühlte: »jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird.«
Daniela Strigl

42
Peter Turrini/Wilhelm Pevny

Die Alpensaga (1980)

Zwischen Oktober 1976 und Mai 1980 wurden die sechs Teile (Liebe im Dorf, Der Kaiser am Lande, Das große Fest, Die feindlichen Brüder, Der deutsche Frühling, Ende und Anfang) der von Peter Turrini und Wilhelm Pevny geschriebenen und von Dieter Berner filmisch umgesetzten Alpensaga erstmals vom ORF gesendet, 1980 erschien auch eine dreibändige Buchausgabe. Mit dieser realistisch-fiktionalen Geschichte eines Bauernhofes in einem oberösterreichischen Dorf zwischen 1899 und 1945 errang ein aufklärend ausgerichtetes Werk der österreichischen Gegenwartsliteratur einen seither nicht mehr erreichten Höhepunkt an öffentlicher Aufmerksamkeit. Mit dem Programm einer »Geschichtsschreibung von unten« schildert die Serie Ereignisse in einschneidenden Wendejahren der österreichischen Geschichte, in der sich politische und persönliche Konflikte verzahnen. In Österreich löste vor allem die erste Folge große Aufregung aus: mächtige Interessensverbände warfen der Serie vor, den Bauernstand zu diffamieren und »kommunistische Agitation« zu betreiben. Die Serie, zum Teil prominent besetzt (Prelog, Qualtinger, Affolter, Berger, Holzmeister, Paryla, Resetarits, Bleibtreu, Böhm u.v.a.) wurde 1982 noch einmal im Wochenrhythmus gesendet.
Redaktion

43
Marlene Streeruwitz

Waikiki Beach. Und andere Orte (1999)

1990 wurde Marlene Streeruwitz in der Zeitschrift Theater heute erstmals als bemerkenswerte Nachwuchsdramatikerin namhaft gemacht. Ihre Theatertexte, die sie zum Teil seit 1987 geschrieben hatte, wurden viel gespielt und erschienen bald in Buchform. Die Stücke, beginnend mit Waikiki Beach, 1992, bieten wenig Identifikationsmöglichkeiten, sie sperren sich durch sprachliche Brechungen gegen Vereinnahmung und attackieren die gegebenen Machtverhältnisse und deren Täter-Opfer-Rituale. Ihren Kern bildet die Sprach-Inszenierung, die das bombastische Schau-Spiel-Getöse des Regietheaters unterläuft.
Redaktion

44
Ernst Jandl

Laut und Luise (1966)

Die insgesamt dreizehn Abteilungen des Bandes rekurrieren vom Liebesgedicht und Lied (»mit musik«: Lyra, Lyrik) über das Lehrgedicht, das politische und Naturgedicht, das Abendgedicht, das Tiergedicht und das Epigramm, bis zum visuellen und Lautgedicht auf vorgängige Gattungen bzw. Genres. Deren normative Vorstellungen, und seien sie auch noch so schemenhaft oder rudimentär gegenwärtig, rufen sie in ihrer medialen und ästhetischen Varianz auf und befestigen sie – gerade in der von Jandl unternommenen Abweichung von der Konvention. Dies geschieht, indem die Abweichung, das mutwillige Nichtbefolgen sich eben nur vor dem Hintergrund gattungstheoretischer und -historischer Dispositive vollziehen kann, deren (konventionalisierte) Merkmalbündel sie latent mitführt. Auch der poetologische Witz zwischen literalem und figürlichem Wortsinn speist sich aus dem Kontrast zur Gattungskonvention. Der poetologische Witz von Jandls Gedichten in Laut und Luise besteht – und das macht bis heute noch ihren ästhetischen Affront aus – in vielfachen gattungsinternen Unterbietungen und Dysfunktionen bzw. funktionalen Neubelegungen. Was hier partiell eine mutwillige Unterkomplexheit erzeugt, ist ein poetischer Elementargeist, den es schriftmündlich drängt, die Poesie in ihre Bestandteile zu demontieren und im Akt der rekonstruierenden Demontage ihre Wurzeln freizulegen. [...] Jandl hat mit diesem Band den Versuch unternommen, basale sprachliche Gestaltungsgrenzen – grammatische, semantische, rhetorische, phonetische, graphematische – auszuloten, was in dieser Diversifikation, gebündelt in einem einzigen Musterbuch, so noch nicht geschehen war.
Michael Lentz

45
Jean Améry

Jenseits von Schuld und Sühne (1966)

Amérys Jenseits von Schuld und Sühne birgt eine Utopie als Hoffnung. Wer wie ich im Geschichtsunterricht Verharmlosungen der Holocaust-Verbrechen ausgesetzt war, wird immer die Aufklärung suchen und verlässliche Quellen, die mit Leidenschaft Aufschluss geben über die Geschichte. Jenseits von Schuld und Sühne bietet einen unermesslichen Schatz der Auskunft und Befragung, der Selbstbefragung. Das Sprechen über das Unaussprechbare, das Erinnern, das Verhältnis der Juden und Nicht-Juden zueinander nach dem Holocaust. Améry leistet dieses Sprechen mit Klarheit und Takt. Wie er es schafft, Leidenschaft mit größter Nüchternheit in Sprache zu kehren, belegt seine literarische Virtuosität. Amérys Aufschlüsse rütteln wach, fordern Haltung, ohne zu moralisieren, fordern Verantwortung gegenüber der Vergangenheit, gegen die er rebelliert, und gegenüber den aktuellen Fragen von universeller Notwendigkeit für die Welt. Was ist notwendig für die Menschlichkeit? Wie erkämpfen wir die Menschenrechte? Es gibt keinen Quadratmillimeter der Freiheit, der nicht zu verteidigen wäre, nicht zu erkämpfen wäre. Amérys Großzügigkeit, Aufrichtigkeit und Intensität bezeugen Verletzlichkeit und die Parität von Körper und Geist. Er macht klar, dass Wirklichkeit gestaltbar ist, und zwar menschlich. Deshalb ist seine Essay-Sammlung Grundlagenliteratur und gehört ins Pflichtprogramm unserer Schulen. Amérys Forderung nach einem unabdingbaren Humanismus ist in einer Zeit zunehmenden Rechtsradikalismus und neoliberaler Wirtschaftspolitik im Europa des 21. Jahrhunderts aktueller denn je.
Lydia Mischkulnig

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66