66-70

Jonke // Menasse // Henisch // Faschinger // Pauli
66
Gert Jonke

Es singen die Steine. Ein Stück Naturtheater (1998)

In Es singen die Steine. Ein Stück Naturtheater von Gert Jonke brüllen Felswände, behindern und verweigern sich Wald- und Obstbäume. Die Natur und einige Menschen leisten Widerstand gegen Ausbeutung, Gentechnologie, Überbürokratie und Großkonzerne. Wildgruber, einer, der vom Himmel gefallen ist und über drei Zaubermittel verfügt, versucht vor der drohenden Apokalypse zu helfen. Doch muss er sich auch selber finden. Gert Jonke zählt zu den bedeutenden sprachmächtigen österreichischen Dramatikern, die um die Jahrtausendwende beigetragen haben, die Theaterästhetik in Richtung postdramatisches Theater weiter zu entwickeln. Eine Re-Lektüre nach 20 Jahren zeigt, dass das Stück, das 1998 uraufgeführt wurde, nicht nur thematisch nach wie vor brisant, sondern auch in Dramaturgie und Sprache reizvoller denn je ist.
Evelyn Deutsch-Schreiner

67
Robert Menasse

Die Vertreibung aus der Hölle (2001)

Robert Menasses Roman Die Vertreibung aus der Hölle, erschienen im Jahr 2001, gehört zu jenen Grundbüchern der österreichischen Literatur, die formal und thematisch das Österreichische gleichermaßen konstituieren und sprengen. Der Text changiert souverän zwischen drei Erzählebenen, die das ausgehende 20. Jahrhundert, die österreichische Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre und die jüdische Diaspora des 17. Jahrhunderts umfassen. Zwischen den Protagonisten, dem österreichischen Historiker Viktor Abravanel und dem portugiesisch-niederländischen Rabbiner Samuel Manasseh ben Israel, liegt jene historische Distanz, die gleichwohl die innersten Zusammenhänge der erinnerten Geschichte imstande ist freizulegen. Die zentralen Fragen unserer Zeit, das Wechselspiel von Heimat und Vertreibung, Erinnern und Vergessen, Flucht und Wiederkehr, Kontinuität und Abkehr erfahren in diesem Roman eine ebenso erschütternde, philosophisch gesättigte, wie mitunter aber auch groteske poetische Konkretion.
Konrad Paul Liessmann

68
Peter Henisch

Die kleine Figur meines Vaters (1975)

Peter Henischs Buch erzählt von einem kleinen Mann, der trotz einer jüdischen Mutter einer der prominentesten Bildberichterstatter des Dritten Reichs und insbesondere ein Star der fotografischen Dokumentation seiner Angriffs- und Vernichtungskriege war – und der trotz dieser prekären ›Karriere‹ auch einer der prominentesten Presse- und Porträtfotografen der Zweiten Republik wurde. Erzählt wird die Geschichte von einem der bedeutendsten Schriftsteller der Zweiten Republik, der das Verstörende und Unbegreifliche im Leben des Fotografen, der sein Vater war, verstehen und begreifen möchte. Er will wissen, »wer Er ist, um mir darüber klar zu werden, wer ICH bin.«
Klaus Amann

69
Lilian Faschinger

Magdalena Sünderin (1995)

Lilian Faschingers Roman Magdalena Sünderin ist die Lebensbeichte einer jungen Frau aus Kärnten: Durch eine Verkettung unglücklicher Umstände ist sie zur siebenfachen Mörderin geworden, an einer Kette von Liebhabern, die sie – quer durch Europa – mit stets wechselnden Todesarten bedacht hat. Die Erzählerin mit ihrer unerschöpflichen Fabulierlust ist als eine andere Scheherezade, als barocke Schelmin, als feministisch entworfenes Subjekt oder auch als Thomas-Bernhard-Nachfolgerin bezeichnet worden. Dass der Roman aber mit all diesen Genres, Themen und Diskursen ein raffiniert-ironisches Spiel treibt und aus der Gratwanderung zwischen E- und U-Literatur eine tänzerische Glanzleistung macht, hat ihm eine internationale Rezeption und den Rang eines Grundbuches österreichischer Literatur gesichert.
Konstanze Fliedl

70
Hertha Pauli

Jugend nachher (1959)

Hertha Paulis Roman Jugend nachher gehört zu jenen frühen, allzu wenig beachteten Texten der österreichischen Literatur nach 1945, die gegen das »Schweigen« (Evelyne Polt-Heinzl), gegen das Verschweigen der Nazi-Verbrechen, gegen das Weiterwirken faschistischen Bewusstseins und die Idealisierung fragwürdiger Tugenden wie Ordnung, Sauberkeit, Treue zum Führer in der Nachkriegsgesellschaft anschreiben. Er kann als »Fortschreibung« (Ernst Seibert) von Ödön von Horváths Roman Jugend ohne Gott (1937) verstanden werden, der die Verrohung der Jugend in der (prä)faschistischen Gesellschaft aus der Perspektive eines Lehrers thematisiert. Die jugendliche Ich-Erzählerin in Jugend nachher (nicht zufällig) namens Irene, die Friedfertige, deren Eltern von den Nazis ermordet wurden und die selbst nur knapp dem Holocaust entronnen ist, kann ihren Ort in der Gesellschaft, ersehnte Zugehörigkeit nicht finden. Sie gerät in den Umkreis einer jugendlichen Verbrecherbande, in der Gewalt regiert. Lange Zeit verschweigt sie im nach wie vor antisemitisch geprägten Umfeld ihre halbjüdische Herkunft, durchbricht jedoch mit einem Geständnis im Gerichtsprozess gegen die Jugendbande ihr Schweigen.
Kurt Bartsch

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66