81-85

Bäcker // Scholl // Brandstetter // Ludwig // Mitterer
81
Heimrad Bäcker

nachschrift (1986)

Heimrad Bäcker geht nachvollziehbar zu den Quellen der nationalsozialistischen Tötungsmaschinerie und ordnet sie an. Jedes Zeichen ist überprüfbares Material. Es genüge, erläutert er, »bei der Sprache zu bleiben, die in den Dokumenten aufbewahrt ist«. Das schaffe einen »Zusammenfall von Dokument und Entsetzen, Statistik und Grauen«. Die adäquate Sprache sei genau jene des Schreckens. In ihren Wörtern und Worten steckt die Wirklichkeit des Holocaust, diese Sprache ist ein Werkzeug der Enthumanisierung.
Victor Klemperer hat die Sprache des Dritten Reiches analysiert, Heimrad Bäcker zeigt sie am Werk. Es ist ein singuläres, höchst beeindruckendes Werk österreichischer Literatur, laut Friedrich Achleitner ein »Hauptwerk Konkreter Poesie«.
Klaus Zeyringer

82
Sabine Scholl

Wir sind die Früchte des Zorns (2013)

Der Titel des Romans Wir sind die Früchte des Zorns von Sabine Scholl nimmt Bezug auf John Steinbecks Roman Früchte des Zorns, der die Geschichte einer Familie aus Oklahoma auf der Suche nach einer besseren Zukunft erzählt. Auch Sabine Scholls Roman entfaltet aus der Sicht der Erzählerin, die autobiografische Züge der Autorin trägt, die Geschichte einer Familie über vier Generationen. Scholls Roman richtet die Aufmerksamkeit auf die Frauen dieser Familie, auf ihre nicht selten verzweifelten Versuche, die ihnen zugedachten Rollen zu verweigern oder zu verlassen. Zugleich ist der Roman eine Genese des Schreibens aus dem Schmerz, der zeigt, »dass Geschriebenes über die Erfahrung einer Geschichte hinausgehen kann«.
Beate Tröger

83
Alois Brandstetter

Zu Lasten der Briefträger (1974)

Zu Lasten der Briefträger ist die lange Rede eines Mannes über beklagenswerte Zustände bei der Post und in der Welt. Indem die virtuose Handhabung rhetorischer Mittel Phrasen zur Kenntlichkeit bloßstellt, vermag die Gesellschaftskritik zugleich als Satire einer Gesellschaftskritik zu wirken; und die alte rhetorische Form der Schimpfrede findet sich ironisch gebrochen.
Mit seinem ersten Roman hat Brandstetter nicht nur eine originelle Prosa geschaffen, sondern auch eine für sein gesamtes Werk konstitutive Erzählform angewendet. Der tiefgreifende und gewitzte Zugang lässt gesellschaftliche Phänomene kritisch und satirisch im Lichte impliziter Sprachkritik erstehen. Es tut gut, den Roman heute zu lesen. Nicht nur wegen des literarischen Genusses, sondern auch weil er eine Kommunikationswelt zeigt, wie sie in digitalen Zeiten nicht mehr besteht, und zugleich frühe Ansätze aktueller Miseren aufs Korn nimmt, die damals noch abzuwenden gewesen wären.
Klaus Zeyringer

84
Paula Ludwig

Gedichte (Gesamtausgabe 1986)

So bewegt auch das Leben Paula Ludwigs, so vielfältig ihre künstlerischen und persönlichen Beziehungen waren, so kontinuierlich verläuft die Entwicklung ihrer dichterischen Sprache. Von einer »ergreifenden Kraft und Einfalt der Sprache« (Hermann Kasack) hin zu großen Anrufungen und Oden der Liebe und des Daseins. Pflanzen- und Tierwelt bilden den Rahmen einer schlichten Bildlichkeit und eines langen Atems des Erhabenen, in den das menschliche Leben und Lieben mit seinen expressiven Momenten eingebunden bleibt. Zwei ihrer Gedichtbände, Der himmlische Spiegel und Dem dunklen Gott, waren von den Begegnungen und Jahren mit ihren Liebespartnern, dem Richter und expressionistischen Dichter Friedrich Koffka und dem surrealistischen Dichter Yvan Goll, geprägt.
Kurt Neumann


Wer kennt heute noch Paula Ludwig (1900–1974), die vor dem Zweiten Weltkrieg eine renommierte Lyrikerin und Prosaistin war? Es lohnt sich, ihren vielschichtigen, bildmächtigen Zyklus Dem dunklen Gott (1932), aus der Liebe zu Yvan Goll entstanden, wieder zu lesen, oder ihre zarten Jugendgedichte. Um dann in der späten, nach den Erfahrungen von Krieg und Emigration entstandenen Lyrik einen ganz anderen Ton zu finden, teils anklagend, teils lakonisch konstatierend und von der Sorge um den Fortbestand der Menschheit und der Natur diktiert.
Ulrike Längle

85
Felix Mitterer

Die Piefke-Saga (1991)

Felix Mitterers erst aus drei Teilen bestehende TV-Komödie, vier Jahre später durch einen weiteren Teil ergänzt, untersucht in der Tradition des Volksstückes, die er schon in seinen davorliegenden Werken für sich adaptiert und weiter entwickelt hatte, das ambivalente Verhältnis zwischen der Tiroler Bevölkerung und ihren deutschen Urlaubsgästen. Dass die Einheimischen untereinander ebenfalls zwiespältige Beziehungen pflegen, ist nur ein Teil der gesellschaftspolitischen Tatsachen und Wahrheiten, die Mitterer in seiner populären satirischen Serie zur Darstellung gebracht hat. Diese erfuhr zahlreiche Wiederholungen in verschiedenen TV-Anstalten des öffentlichen Rechtes in Deutschland und Österreich, wobei mehrfach der schonungslos-radikalere vierte Teil einfach unterschlagen wurde. So erstaunt es auch nicht, dass für den von Mitterer nach dem Tiroler Corona-Desaster geschriebenen fünften Teil noch keine Aussicht auf einen Produktionstermin besteht.
»Unumstritten waren seine Arbeiten nie. Felix Mitterer hat sich immer schon bemüht, auf die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels – wie er sie beobachtet – und auf die daraus resultierenden Konflikte mit Hörspielen, Theaterstücken und Fernsehspielen so zu reagieren, dass sein wichtigstes Anliegen nicht übersehen werden kann: aufzuklären über Mittel und Wege, in jeder Konstellation Menschlichkeit zu beweisen, das Leben nach ethischen Maßstäben zu gestalten. In der Piefke-Saga sollte das Thema Massentourismus aufgegriffen und dabei zugleich auch etwas Neues versucht werden, nämlich ein dramaturgisches Konzept mit eingebauten Brüchen. Der erste Teil ist als Satire angelegt, der zweite als Komödie, der dritte als Tragikomödie; der vierte präsentiert eine Horrorvision. Mit eingeplant: Kontroversen. Alles mittlerweile passé?«
Johann Holzner

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66