56-60

Fried // Glück // Schwab // Schreiner // Fritsch
56
Erich Fried

Und Vietnam und (1966)

Zum Jahresende 1965 forderten 37 Autoren der »Gruppe 47« im Hamburger Magazin »konkret« von der christdemokratischen BRD-Regierung, sich von der militärischen Intervention der USA in Vietnam zu distanzieren. Zu den Unterzeichnern der »Erklärung über den Krieg in Vietnam« gehörten etwa Heinrich Böll, Hans Magnus Enzensberger, Wolfgang Weyrauch und Ingeborg Bachmann. Ein weiterer Unterzeichner war Erich Fried. Mit Fried griff, wie es später die Germanistin und Lyrikerin Ulla Hahn in Bezug auf die deutschsprachige Literatur festhielt, »erstmalig ein namhafter, im bürgerlichen Literaturbetrieb verankerter Autor das [Vietnam-]Thema auf und erzielte damit eine politische Wirkung, die alle anderen Solidaritätslieder um ein Vielfaches übertraf«. Mit seiner Sammlung und Vietnam und  von 1966 hatte er die verschüttete Tradition des unverblümt sprechenden, politischen Gedichts wiederbelebt. Dafür erntete er nicht nur (vor allem aus oppositionellen Kreisen) Zuspruch, sondern auch herbe Kritik, was sich nicht zuletzt in einer aufgeladenen Auseinandersetzung widerspiegelt, in der u.a. die Schriftsteller Günter Grass, Peter Härtling, der Kritiker Marcel Reich-Ranicki und der Literaturwissenschaftler Hans Mayer das Wort ergriffen. In diesem Kontext gehört der Vietnam-Gedichtband zu den Grundbüchern der Literatur der 1960er Jahre – so schon zeitnah ausgezeichnet von Martin Walser, der in dem Titel und Vietnam und  die »Zeile unseres Jahrzehnts« sah –, ausgelöst von einem Österreicher, 1921 in Wien geboren, 1938 nach England vertrieben, wo er bis zu seinem Tod 1988 lebte. In seiner Heimat wurden seine Vietnam-Gedichte merkwürdiger- oder gar bezeichnenderweise vorerst so gut wie nicht wahrgenommen.
Volker Kaukoreit

57
Anselm Glück

ohne titel (1984)

Nach stumm (edition neue texte, 1977) und falschwissers totenreden(t) (Suhrkamp, 1981) ist der unter dem Titel ohne titel 1984 in Heimrad Bäckers edition neue texte erschienene Band eine Bewusstseins-, Wahrnehmungs-, Erinnerungs- und Vorstellungsprosa. In Wortkaskaden, ausufernden und komplexen Satzverschachtelungen lotet Glück aus, wie sich über so elementare Vorgänge wie das »Sehen«, »Schauen«, »Vorstellen«, »Erinnern« in sprachlicher Form handeln lässt, und mehr noch: wie diese scheinbar vertrauten Vorgänge ins Taumeln geraten, ihrer eingefleischten Gewissheiten entraten. ohne titel ist mehr oder minder klar in drei Teile gegliedert, die als sprachliche Zeugnisse einer Selbstexploration des (schreibenden) Individuums zu verstehen sind, das den Zumutungen seiner Umwelt begegnet, indem es die Gewissheit des Beobachteten bis zum Aussichtslosen (darin wohl Beckett ebenso verwandt wie Kafka) untergräbt, etwa in: »oft kippen in mir beobachtungen und mein interpretieren dieser beobachtungen und mein vermuten zu diesen interpretationen und so immer fort zu einem knäuel zusammen, das sich dann immer und immer wieder selbst um- und um- und verschlingt und sich so zu begreifen sucht, das sich in dieser begriffsucht aber immer nur weiterruckt und -wickelt, scheinbar immer weiter über sich selbst hinaus, und diesem trubel, den ich als ganzes bald nicht mehr überblicken kann, entziehe ich dann eine art stimmung, die mir zu weiterem mutmaßen dient und die ich manchmal (jetzt wieder im abc-modell) in die vorstellung tapezier, daß das aufblitzen im deckungsgeschiebe ein gezieltes anreden oder zumindest aussprechen sein könnte, sozusagen eine blinksprache, das sich da oder das da etwas mitteilt.«
Thomas Eder

58
Werner Schwab

Die Präsidentinnen (1990)

In seinem Vorwort zur Buchpublikation der Fäkaliendramen, als deren erstes Stück Werner Schwab Die Präsidentinnen publizierte, schreibt er, Theater sei »so eine Art metaphysisches Bodenturnen«. Der Klappentext verweist auf die Tradition des Volksstückes, auf Vorgänger wie Horváth oder Fleißer. Tatsächlich haben Anfang der 1990er Jahre, auf je sehr unterschiedliche Art, Marlene Streeruwitz und Werner Schwab mit ihren Texten eine je originelle Melange literarhistorischer Verweise und moderner Zustände, »Schwachstellen in unserem sozialen Gefüge«, wie es in Schwabs Band heißt, und austriakischer Vorgänge auf das Theater gebracht. Das wohl intensivste von Schwabs Bruch-Stücken des Ersprechens, Die Präsidentinnen, ist eine böse Farce in neuartigem Sprachaberwitz, mit deren Uraufführung 1990 der rapide Aufstieg des Autors begann. Die für Literatur aus österreichischem Kontext oft so wesentliche Sprachskepsis steigert Schwab, seine Sprachdestruktion lässt zugleich die Worte wuchern. Der erste Satz des Präsidentinnen-Textes ist Widerrede, es folgt eine Zerstörung kleinbürgerlicher Gewissheiten, wie sie kaum ihresgleichen hat: existenziell, sozial, sprachlich – allerorten, und zwischen den Worten das Epizentrum Österreich, Mariazell und Waldheimat.
Klaus Zeyringer

59
Margit Schreiner

Nackte Väter (1997)

Bilder des einmal so starken Vaters, der, wie alle, seine Kräfte verliert und sterben muss: Nackt, im Badezimmer bei offener Tür, nackt bei der Morgengymnastik, nackt in eiskalte Gebirgsseen springend; nackt unter einer Wolldecke nach einem Kollaps, nackt und alzheimerkrank durch die Wohnung geisternd. Die Erzählung beginnt mit der Beerdigung des Vaters und endet mit der Rückkehr der Erzählerin zu ihrem lebenslustigen Mann und dem lachenden Kind. Margit Schreiner erzählt über die Möglichkeiten und Mühen der Nähe zwischen Tochter und Vater. Bereits bei seinem Erscheinen 1997 erschütterte der Roman. Heute wird uns noch deutlicher, wie sehr er Kernthemen unserer alternden Gesellschaft schmerzlichst und gültig auf den Punkt bringt: Alter, geistiger und körperlicher Verfall, lange quälende Abschiede, dann Tod der uns Nächsten – der Mutter, hier des Vaters. Hilflos steht die Ich-Erzählerin als unser aller Alter Ego vor dem Entgleiten in Fremdheit und totale Hilflosigkeit dessen, der – wie die Erzählerin in Rückblenden schildert – selber immer integrer Helfer und nah, am nächsten war: der Vater. Väter, Mütter, die schwinden und eben nicht bleiben, wie das Kind in uns glaubt. Margit Schreiners Buch geht an unsere innerste Substanz, bleibend.
Anke Bosse

60
Gerhard Fritsch

Fasching (1967)

Der Roman Fasching (1967) von Gerhard Fritsch (1924–1969) erzählt die Geschichte des Deserteurs Felix Golub, der in einer steirischen Kleinstadt von einer Baronin versteckt und, als Dienstmädchen verkleidet, zu ihrem Liebhaber gemacht wird. Gänzlich ungeplant gelingt es ihm, den Ort vor der Zerstörung zu bewahren, was ihm die Bewohner danken, indem sie ihn bei den Sowjets denunzieren, die ihn nach Sibirien verschleppen. Als er nach zehnjähriger Kriegsgefangenschaft im Jahr des Staatsvertrags in den Ort zurückkehrt, in dem gerade Fasching gefeiert wird, schlägt ihm blanker Hass entgegen. Zur Erinnerung an seine »Heldentat« wird er abermals als Frau verkleidet und zur Faschingsprinzessin gekürt. Der Roman zielt ins Mark der Zweiten Republik. Das friedliche Bild einer zivilen Gesellschaft erweist sich als Maskerade, hinter der die alten Fratzen lauern. Die Protagonisten und Honoratioren von einst und jetzt haben zwar ihre Uniformen gegen das Trachtengewand ausgewechselt, sie sind jedoch geblieben, was sie waren. »Vergangenheitsbewältigung« auf österreichisch – zwanzig Jahre vor Waldheim. Das Buch war ein absoluter Misserfolg.
Klaus Aman

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66