51-55

Koestler // Kofler // Reichart // Brus // Canetti
51
Arthur Koestler

Die Geheimschrift (1954)

Arthur Koestlers Die Geheimschrift ist trotz aller Eitelkeiten ein großes literarisches Dokument geblieben, das vom Ende der Weimarer Republik, der »heißen Phase« des Stalinismus, von Emigration und Widerstand gegen den Nationalsozialismus erzählt, mit einer Sprachkraft, die auch heutige Leserinnen und Leser in den Bann zieht. Man kann Koestlers Autobiographie, obwohl sie nicht so bekannt ist wie sein Roman Sonnenfinsternis (aber auch der ist schon fast vergessen), als das wichtigste Werk des Autors bezeichnen, und man kann Koestler, zusammen mit George Orwell, Manès Sperber und Alexander Solschenizyn zu jenem kleinen Kreis von Autoren rechnen, die eine gewaltige politische Wirksamkeit entfaltet haben. Der englische Historiker Tony Judt hat in »Das vergessene 20. Jahrhundert« bedauert, dass Koestler heute vergessen sei, aber dem hinzugefügt: »Eines Tages werden diese Bücher Pflichtlektüren für alle Historiker sein, die sich mit unserem Zeitalter beschäftigen«.
Michael Rohrwasser

52
Gerhard Kofler

Poesie di mare e terra. Poesie von Meer und Erde (2000)

Wie schon die subtile Ambivalenz des italienischen Titels zeigt (übersetzt: »Gedichte von Meer und Erde« – oder: »Gedichte aus Meer und Erde«), fließen in diesem Buch die Grundzüge der zweisprachigen Poetik Gerhard Koflers zusammen: die Verschmelzung und der gegenseitige Austausch von »hoher« Dichtung und »banaler« Alltäglichkeit, wobei nicht der Alltag in »entrückte« Sphären der Poesie erhoben, sondern das Poetische auf die Ebene der einfachen und alltäglichen Dinge des Lebens zurückgeführt wird, ohne dadurch seine Kraft, die vor allem eine der bedacht gesetzten Worte ist, zu verlieren.
Furio Brugnolo
In seinen Poesie di mare e terra/Poesie von Meer und Erde (und dem drei Jahre später erschienenen Zwillingsband Poesie di mare, terra e cielo/Poesie von Meer, Erde und Himmel) verknüpft Gerhard Kofler zwei für sein Werk charakteristische, diametral entgegengesetzte poetische Perspektiven: Hier das Alltägliche, die kleine Geste, die er als Kern seiner dichterischen Arbeit behauptet, dort das Allgemeine, Universale, das ein bewusstes und gestaltendes In-der-Welt-Sein verankert und legitimiert. Um aus dem Alltäglichen den Mehrwert des Bedeutenden zu gewinnen, setzt Gerhard Kofler ein differenziertes Instrumentarium ein: Aktivierung historischer und mythischer Topoi, Einbettung in einen sowohl »populär« als auch »elitär« codierten lyrischen Formenschatz: von alten Versmaßen der italienischen Dichtung über spanische Romanze, Song und Chanson bis zum orientalischen Gasel und klassischen Sonett. Ein umfassender Fundus ausgewiesener oder versteckter literarischer Zitate und kultureller Anspielungen positioniert seine Dichtung als zeitgenössischen Beitrag eines zeitlosen Kontinuums des Dichtens in italienischer Sprache, durchsetzt mit Querverbindungen zur deutschen und österreichischen Dichtung. In Gerhard Koflers Dichtung lässt sich eine angewandte Dialektik von klein und groß erkennen, von alltäglich und besonders, gewöhnlich und feierlich ins Werk gesetzt, deren eigentliche Thematik die schmerzlichen Widersprüche der menschlichen Existenz, die Abgründe zwischen »ideal« und »real« vorschreiben. Diese Abgründe registriert das empfindsame, vom Dichter erschaffene poetische Ich, das dieser Brüche gewahr bleibt, wenn es sie pointiert und in freundlicher Ironie umspielt, wenn es sie in rhetorischer Geste und in Berufung auf eine bis in die Anonymität der alten Mythen zurückreichende dichterische Tradition aufzuheben trachtet.
Redaktion

53
Elisabeth Reichart

Februarschatten (1984)

»Ich las dieses Buch gespannt. Die Struktur des Textes, die einer Enthüllung zutreibt, entspricht dem Gang der Erkundung, den die Autorin unternommen hat, und sie entspricht auch dem Vorgang des Sich-Erinnerns«, schreibt Christa Wolf in ihrem Nachwort zu einer zweiten Ausgabe dieses Buches. Reichart erzählt von der Befragung einer Mutter durch die Tochter, von einem Versuch, darüber zu sprechen, worüber man zu schweigen gelernt hat.
Redaktion
In der Nacht auf den 2. Februar 1945 brachen 500 sowjetische Offiziere aus dem Konzentrationslager Mauthausen aus. Die brutale Hatz, die die SS gemeinsam mit der Zivilbevölkerung auf die Entflohenen veranstaltete, von denen nur eine Handvoll überlebten, ist mit der zynischen Formulierung ›Mühlviertler Hasenjagd‹ nur angedeutet. In Elisabeth Reicharts Roman Februarschatten (1984) wird das Geschehen zum Ausgangspunkt einer für die österreichischen Verhältnisse beispielhaften Verdrängungs- und Traumatisierungsgeschichte, die auch für vergleichbare Erfahrungen andernorts Gültigkeit beanspruchen darf.
Klaus Amann

54
Günter Brus

Irrwisch (1971)

Irrwisch gehört unbedingt in eine Reihe mit Konrad Bayers der sechste sinn (1966) und Oswald Wieners die verbesserung von mitteleuropa, roman (1969). Erst in der Ausweitung von Literatur in die Bereiche von bildender Kunst und Musik, die hier in einem heftigen Impetus vonstattengeht, wird das Textkorpus der österreichischen Nachkriegsmoderne komplett. Irrwisch markiert ein Ende, in dem sich gleichzeitig ein neuer Anfang birgt. Das Produktionsprinzip des Textes ist der ungestüme Anlauf. Immer wieder werden neue Anläufe genommen, um abzurechnen: mit Österreich, Deutschland, dem Staat, der Kindheit, der Zeit beim Bundesheer, dem Vater. Auch die Zeichnungen funktionieren nach dem Prinzip der Überbietung. Überboten wird in ihnen, was mit dem eigenen Körper in den vorausgehenden Körperaktionen möglich war, denn was hier gezeichnet ist, hielte ein Körper nicht mehr aus.
Klaus Kastberger

55
Veza Canetti

Die gelbe Straße (1932/1933; 1990)

Erst in den 1990er Jahren sind Veza Canettis Roman Die Gelbe Straße und ihre Erzählungen in Buchform erschienen. Die Gelbe Straße (gemeint ist die Ferdinandstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk) liest sich als groteske Darstellung des Mikrokosmos in der ehemals jüdischen Leopoldstadt, die als Zentrum der Lederwaren-Händler galt. In atmosphärischer Dichte erzählt Veza Canetti vom (Zusammen)Leben in der nach der Farbe des Leders benannten Straße, sie überhöht die Figuren, gibt ihnen sprechende Namen (der zwangsneurotische und geizige Herr Vlk lässt sich auf Tschechisch mit Wolf übersetzen) und blickt mit der Frage nach den sozialen Umständen auf die Verhältnisse. In der Re-Lektüre überzeugt Die Gelbe Straße – fern von klischeehaften und stereotypen Zuschreibungen – auch als Warnung vor der aufkommenden faschistischen Ideologie.
Julia Danielczyk

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66