91-95

Gstrein // Kain // Helfer // Tumler // Busta
91
Norbert Gstrein

Der zweite Jakob (2021)

Der 1961 in Tirol geborene und heute in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein ist ein eleganter und anspruchsvoller Stilist: Seine Sätze können sich über halbe Seiten erstrecken, dennoch sind sie klar und präzise. Er ist ein Meister der »langen Oder-Sequenzen«, weil er einfachen Wahrheiten misstraut, weil seine schriftstellerische Passion auch darin besteht, die meinungsstark auftretenden Erzählinstanzen zu demontieren. Gstrein ist ein intellektueller, dabei humorvoller und zugleich sinnlicher Autor, der zwischenmenschliche Untiefen mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu verbinden weiß. In seinen vielgelobten Romanen Die kommenden Jahre (2018) und Als ich jung war (2019) geht es um Identitäts- und Ehekrisen, aber auch um politische Herausforderungen wie etwa die Migrations- und Klimamisere. Das alles wird mit Fingerspitzengefühl erzählt, ohne die Widersprüche und Verlogenheiten in diesen Diskursfeldern auszusparen.
Zentral in Gstreins Werk aber ist sein Roman Der zweite Jakob, weil es hier nicht nur um ein wichtiges Thema, nämlich ums würdige Älterwerden, sondern auch und vor allem um Kernfragen zeitgenössischer Literatur geht: Wie lässt sich eine Biografie ohne Larmoyanz erzählen, wie verhalten sich Erzähler-Ich und Ich-Erzähler zueinander und welchen Wahrheitsgehalt kann Prosa reklamieren, die sich nicht zwischen »Authentizitäts- und Fiktionalitätsbehauptung« entscheiden möchte? Mit Der zweite Jakob kehrt Gstrein auch zu seinen literarischen Anfängen, nämlich seiner Erzählung Einer (1988) und damit zu einer Tiroler Kindheit zurück, die vom Hotel- und Skibetrieb der Eltern, vom rücksichtslosen Willen zum wirtschaftlichen Erfolg und vom Ausschluss unberechenbarer Lebensläufe geprägt war. Oder handelt es sich hierbei doch eher um Projektionen im literarischen Rückspiegel? Der zweite Jakob ist ein Grundbuch der österreichischen Literatur seit 1945 – und noch viel mehr.
Carsten Otte

92
Eugenie Kain

Hohe Wasser (2004)

In ihren Erzählungen verbindet sich Eugenie Kains aus praktischer sozialpolitischer Arbeit gewonnenes Erfahrungswissen über das Scheitern von Lebensplänen und Beziehungen mit der Beschreibung minutiöser Beobachtungen. Zusammen mit Motiven aus der Natur und aus den verschiedensten Wissensgebieten, die sie einmal gegen den Fluss des Erzählens montiert oder auch mit diesem treiben lässt, formt Eugenie Kain völlig eigenwillige literarische Kompositionen.
»Wasser ist ein zentrales Element der Poetik Eugenie Kains. Besonders augenscheinlich wird dies im Erzählband Hohe Wasser, in dem alle Erzählungen am Wasser spielen, sei es an einem Teich, einem Fluss oder am Meer. Eugenie Kain ist an der Donau aufgewachsen. Immer wieder ist in ihren Texten vom Hochwasser und Niedrigwasser die Rede. Die Wasserstände der Donau regeln wie die Gezeiten des Meeres das Leben der Anwohner. Dem italienischen aqua alta entsprechen die Hohen Wasser.«    
N. Streitler-Kastberger

93
Monika Helfer

Die Bagage (2020)

Familienroman, Dorfepos, autobiographische Erinnerung, metapoetische Reflexion, »Geschichte von unten«: Wofür andere hunderte Seiten brauchen, genügen Monika Helfer 150. In höchster Kompaktheit und Dichte zeichnet sie das Portrait ihrer Großmutter Maria und wirft zugleich ein Schlaglicht auf die Zeit des Ersten Weltkriegs auf dem Lande, im Bregenzerwald. Dort lebt am Rande des Dorfes die bitterarme »Bagage«, die schöne Maria mit dem schönen Josef und ihren Kindern, bis Josef einrücken muss und seine von allen Männern des Ortes begehrte Frau ausgerechnet dem keineswegs interesselosen Bürgermeister anvertraut.
Zwischen Märchenton und Verismus setzt Monika Helfer die schwankende Rekonstruktion einer in der Familie überlieferten Vergangenheit, sie vertraut auf die Wirkung des Ausschnitts, des Fragments, sie erzeugt Distanz und kommt ihren Figuren doch erstaunlich nahe. Wohl deshalb und vielleicht auch wegen der Exotik der archaisch anmutenden Romanwelt wurde Die Bagage zu einem der aufsehenerregendsten Bücher der letzten Jahre – ohne dass das Label »Autofiktion« für seinen Erfolg in Anspruch genommen worden wäre.
Daniela Strigl

94
Franz Tumler

Sätze von der Donau (1965)

Franz Tumlers in Versen gefasste Sätze von der Donau über den vermutlich europäischsten Strom, der in Deutschland entspringt und durch Österreich sowie über den Balkan ins Schwarze Meer fließt, setzt sich zum Ziel, ›von dem was ein Fluß ist zu schreiben‹. Als genauer Beobachter führt uns Tumler nicht nur zurück in seine Kindheit und Erinnerungswelt, sondern nimmt uns mit auf eine Reise vom Ursprung des Flusses bis zu seiner Mündung. So wird die Donau gegenwärtig und spürbar zu einem lebendigen Geschichtsraum, in den sich Natur- und Kulturgeschichte einschreiben.
B. Judex

95
Christine Busta

Salzgärten (1975)

In Christine Bustas Gedichtband Salzgärten werden lyrische Erkenntnisse kondensiert, in oft sparsam knappen, aber bildstarken und assoziationsreichen Texten. Damit hat die Dichterin eine Sprache gefunden, die verständlich und nicht-elitär ist, die die vielfältigen Rätsel des Daseins auf subtile Weise ins Wort setzt. Trotz der Freiheiten des freien Verses ist ihr Formbewusstsein dabei nicht verlorengegangen.
G. Bydlinski, M. Hansel

publikationen

Dokumentationsbände

der ersten 75 Grundbuch-Veranstaltungen sind 2007, 2013 und 2019 in der Buchreihe profile des Wiener Zsolnay Verlags erschienen.


der hammer nr. 66