programm
76. Grundbuch der österreichischen Literatur seit 1945
Das Werk des österreichischen Schriftstellers Michael Köhlmeier ist so umfangreich wie vielschichtig. Darin spielen zeithistorische Analysen eine genauso große Rolle wie die Märchen, die in einem zeitlosen Raum zu spielen scheinen, aber doch Auskunft geben über das allzu menschliche Hier und Jetzt. Köhlmeier vermag vertrackte Liebesdramen und schlimme Familienzusammenbrüche zu erzählen, er hat elegante Exkurse über die Schönheit der Literatur und die Hässlichkeit der Politik geschrieben, und in diesem nahezu schillernd klugen Œuvre nimmt sein fast 800 Seiten umfassender Roman Abendland einen zentralen Platz ein. In diesem Prosawerk scheinen die großen Themen und wichtigen Figuren dieses Homme de lettres aufgehoben zu sein: Sebastian Lukasser, Köhlmeiers Alter Ego, erzählt die Lebensgeschichte des exzentrischen Mathematikers, Weltbürgers und Jazzfans Carl Jacob Candoris. Es entsteht nicht nur ein Panorama des 20. Jahrhunderts, sondern auch das Psychogramm einer berührenden Freundschaft. Köhlmeier berichtet von den erstaunlichen Zufällen in der Geschichte, den Ungerechtigkeiten in den Lebensläufen, von der Lust an der Liebe genauso wie am Betrug, es geht um die Frage, wie heimatliche Prägung und geistige Emanzipation sich bedingen, wie alles mit allem zusammenhängt bzw. die für den Literaten noch viel gravierendere Herausforderung, wie sich all das Zersplitterte der Welt zusammenhängend und sinnhaft erzählen lässt. In Abendland zeigt Köhlmeier, dass im Rückblick auf unsere Vergangenheit, mag sie noch so brüchig und blutig sein, doch eine Essenz des Humanen, eine abendländische Moral der Demut gegenüber dem Leben herauszulesen ist. Insofern ist dieser Roman wahrhaft ein Grundbuch der österreichischen Literatur.C. Otte
Michael Köhlmeier, *1949 in Hard/Vorarlberg, lebt als
freiberuflicher Schriftsteller in Hohenems/Vorarlberg und in Wien.
19701978 Studium der Germanistik und Politologie in Marburg sowie der
Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. 19731975 gemeinsam
mit Reinhold Bilgeri Gestaltung der Kabarettsendung Im Westen nichts
Neues für Radio Vorarlberg. Aus dieser Arbeit gehen auch die ersten
gemeinsamen Lieder hervor, bzw. im Anschluss daran gemeinsame Tonträger.
Von Ende der 60er Jahre bis 1985 freier Mitarbeiter des ORF. 1981
Heirat mit Monika Helfer. Zahlreiche Romane, Erzählungen, Hörspiele,
Lieder; Erzähler antiker und heimischer Sagenstoffe sowie biblischer
Geschichten im Radio und auf CDs. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt
Marie-Luise-Kaschnitz-Preis (2017). Zuletzt: Die Märchen (2019); Der werfe den ersten Stein:
mythologisch-philosophische Verdammungen (mit Konrad Paul Liessmann,
2019); Die Nacht der Diplomaten. Von einem bemerkenswerten Gespräch
zwischen Henry Kissinger und Tschou En-lai (2019).
Carsten Otte, *1972 in Bad Godesberg, studierte Philosophie in Berlin,
schreibt seit Anfang 1990er Jahre fürs Feuilleton, veröffentlichte
zahlreiche Bücher und lebt heute als Literaturkritiker und
Radiomoderator in Baden-Baden. Beim Südwestrundfunk, für den er seit
vielen Jahren arbeitet, ist Otte für zahlreiche Literatursendungen
verantwortlich, etwa den Talk der SWR-Bestenliste. Er moderiert Lesungen
auf vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum und bespricht sowohl Prosa
als auch Lyrik in Zeitungen und digitalen Formaten, unter anderem in Der
Tagesspiegel, taz, Die Presse, Zeit Online.
Buchreihe Grundbücher der österreichischen Literatur seit 1945 (Hg. K. Kastberger, K. Neumann; Reihe profile im Zsolnay Verlag) – Erste Lieferung (2007); Zweite Lieferung (2013); Dritte Lieferung (2019).