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91. Grundbuch der österreichischen Literatur seit 1945
Der 1961 in Tirol geborene und heute in Hamburg lebende Schriftsteller Norbert Gstrein ist ein eleganter und anspruchsvoller Stilist: Seine Sätze können sich über halbe Seiten erstrecken, dennoch sind sie klar und präzise. Er ist ein Meister der »langen Oder-Sequenzen«, weil er einfachen Wahrheiten misstraut, weil seine schriftstellerische Passion auch darin besteht, die meinungsstark auftretenden Erzählinstanzen zu demontieren. Gstrein ist ein intellektueller, dabei humorvoller und zugleich sinnlicher Autor, der zwischenmenschliche Untiefen mit gesellschaftlichen Fragestellungen zu verbinden weiß. In seinen vielgelobten Romanen Die kommenden Jahre (2018) und Als ich jung war (2019) geht es um Identitäts- und Ehekrisen, aber auch um politische Herausforderungen wie etwa die Migrations- und Klimamisere. Das alles wird mit Fingerspitzengefühl erzählt, ohne die Widersprüche und Verlogenheiten in diesen Diskursfeldern auszusparen.
Zentral in Gstreins Werk aber ist sein Roman Der zweite Jakob, weil es hier nicht nur um ein wichtiges Thema, nämlich ums würdige Älterwerden, sondern auch und vor allem um Kernfragen zeitgenössischer Literatur geht: Wie lässt sich eine Biografie ohne Larmoyanz erzählen, wie verhalten sich Erzähler-Ich und Ich-Erzähler zueinander und welchen Wahrheitsgehalt kann Prosa reklamieren, die sich nicht zwischen »Authentizitäts- und Fiktionalitätsbehauptung« entscheiden möchte? Mit Der zweite Jakob kehrt Gstrein auch zu seinen literarischen Anfängen, nämlich seiner Erzählung Einer (1988) und damit zu einer Tiroler Kindheit zurück, die vom Hotel- und Skibetrieb der Eltern, vom rücksichtslosen Willen zum wirtschaftlichen Erfolg und vom Ausschluss unberechenbarer Lebensläufe geprägt war. Oder handelt es sich hierbei doch eher um Projektionen im literarischen Rückspiegel? Der zweite Jakob ist ein Grundbuch der österreichischen Literatur seit 1945 – und noch viel mehr.
C. Otte
Norbert Gstrein, *1961 in Mils/Tirol, Studium der Mathematik; lebt als freier Schriftsteller in Hamburg. Buchveröffentlichungen (Auswahl): Das Register (1992); O2. Novelle (1993); Der Kommerzialrat. Bericht (1995); Die englischen Jahre. Roman (1999); Selbstportrait mit einer Toten (2000); Das Handwerk des Tötens. Roman (2003); Wem gehört eine Geschichte? Fakten, Fiktionen und ein Beweismittel gegen alle Wahrscheinlichkeit des wirklichen Lebens (2004); Die Winter im Süden. Roman (2008). Die ganze Wahrheit. Roman (2010); Eine Ahnung vom Anfang. Roman (2013); In der freien Welt. Roman (2016); Die kommenden Jahre. Roman (2018); Als ich jung war. Roman (2019); Der zweite Jakob. Roman (2021); Vier Tage, drei Nächte. Roman (2022); Mehr als nur ein Fremder. Reflexionen (2023).
Carsten Otte, *1972 in Bad Godesberg, studierte Philosophie in Berlin, schreibt seit Anfang 1990er Jahre fürs Feuilleton, veröffentlichte Romane und Sachbücher und lebt heute als Literaturkritiker und Radiomoderator in Baden-Baden. Beim Südwestrundfunk, für den er seit vielen Jahren arbeitet, ist Otte für zahlreiche Literatursendungen verantwortlich, etwa den Talk der SWR Bestenliste. Er moderiert Lesungen auf vielen Bühnen im deutschsprachigen Raum und bespricht sowohl Prosa als auch Lyrik in Zeitungen und digitalen Formaten, unter anderem in Der Tagesspiegel, taz, der Wiener Tageszeitung Die Presse und Zeit Online. Romane: Schweineöde (2004); Sanfte Illusionen (2007); Warum wir (2014); Marte und das Meer. Von pupsenden Fischen und schwimmenden Steinen. Kinderbuch (2016).