programm
Geschichte schreiben
Das Zeitalter medial inszenierter Halbwahrheiten stellt die Literatur abermals vor die Frage, ob Geschichte ein Selbstbedienungsladen ist, oder ob AutorInnen ihre Haltung zu Geschichtlichkeit deutlich machen müssen: Im Projekt Geschichte schreiben werden an vier Abenden in dieser Saison Methoden der Übersetzung von Historie in Fiktion mit AutorInnen diskutiert – wie kann etwa Vergangenes aus einer schal gewordenen Gedenkkultur gelöst und mit Gegenwärtigem verknüpft werden? »Erinnerung ist nicht nur das von einem selbst Erlebte, sondern ein Mosaik aus den Abdrücken, die Texte, Bilder oder Riten über Generationen in uns hinterlassen«, schreibt Aleida Assmann – und tatsächlich bleiben viele Randgeschichten, Nebenschauplätze, Schattenfiguren zu erzählen. Das thematische Spektrum der Abende reicht von privaten Migrationsgeschichten über koloniale Impulse der Archäologie bis in den Echoraum der sozialen Medien, die zum Propagandainstrument zeitgenössischer rechter Jugendbewegungen geworden sind.
Sabine Scholl
Ludwig Laher und Hanna Sukare arbeiten mit literarischen Mitteln gegen Geschichtsvergessenheit und Geschichtsfälschung, indem sie verdrängte Ereignisse aus der NS-Zeit faktengenau recherchieren und herausstellen. Mit Lahers Schauplatzwunden werden die Schicksale von Gefangenen im oberösterreichischen Lager Weyer aufgezeigt, um sie »ihrer Spurlosigkeit zu entreißen«. Dafür sammelte Laher über zwanzig Jahre lang Material, führte Interviews mit Überlebenden und Nachkommen. Die Klarnamen der Täter werden genannt.
Hanna Sukare untersucht in ihrem Roman Schwedenreiter zwei Fälle, die an reale Geschehnisse im Salzburger Dorf Goldegg angelehnt sind: Den eines Deserteurs, der lebenslang als Verräter geächtet wurde, sowie den eines Gebirgsjägers, der seine NS-Zeit erfolgreich als Heldentum darzustellen vermochte. In einer Täter-Opfer-Umkehrung galten Deserteure lange als Verräter. 1944 suchte in Goldegg-Weng ein SS-Bataillon nach Deserteuren. Infolge dieses SS-Überfalls wurden bis zum Kriegsende 14 Personen um ihr Leben gebracht. Diese Wunde im sozialen Gefüge des Ortes blieb bis zum Erscheinen von Sukares Roman unaufgearbeitet.
S. Scholl
Ludwig Laher, *1955, studierte Germanistik, Anglistik und Klassische Philologie in Salzburg; lebt in St. Pantaleon/OÖ. Er schreibt Prosa, Lyrik, Essays, Hörspiele, Drehbücher, arbeitet als Übersetzer und ist Verfasser wissenschaftlicher Arbeiten. Zuletzt erschien: Wo nur die Wiege stand. Über die Anziehungskraft früh verlassener Geburtsorte (2019).
Hanna Sukare, *1957 in Freiburg, studierte Germanistik, Rechtswissenschaften, Ethnologie, arbeitet als Journalistin und seit einigen Jahren als freie Autorin. Staubzunge. Roman (2016).
Sabine Scholl, *1959, studierte Germanistik, Geschichte, Theaterwissenschaften; lebt in Wien. Lehrtätigkeit u.a. in Wien, Portugal, den USA, Japan, am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Letzte Romane: Das Gesetz des Dschungels (2018); O. (2020).